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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Strafrechtswissenschaft

Lißzt beginnt seine Ausführung mit der Klage, daß die Krimiualpolitik,
d-h. die Wissenschaft davon, wie Strafrecht und Strafvollziehung zu gestalten
seien, allzu sehr hinter der Wissenschaft des positiven Strafrechts zurückgeblieben
sei. Man kann ihm in dieser Klage wohl beistimmen. Sie ist sogar in noch
griißerm Umfange berechtigt. Denn fast auf allen Gebieten des Rechtes ist
die Wissenschaft von dem, was Recht sein sollte, hinter der Wissenschaft von
dem bestehenden Rechte zurückgeblieben, wie sich dies jetzt bei den Erörterungen
über das bürgerliche Gesetzbuch recht schmerzlich fühlbar macht.

Als Grundlagen der Kriminalpolitik betrachtet Lißzt zwei neue Wissen¬
schaften, die Kriminalanthropolvgie und die Kriminalsoziologie. Wir gehen
über diese theoretischen Grundlagen hinweg und wenden uns sofort zu den
Ausführungen, mit welchen Lißzt praktische Ziele verbindet.

Lißzt ergeht sich zunächst in einer Darstellung des bestehenden Zustandes.
Er nimmt Bezug auf die Kriminalstatistik, die ergebe, daß im Laufe des letzten
Jahrzehntes zwar die Vergehen des Diebstahls und der Hehlerei abgenommen
hätten, dagegen alle übrigen Vergehen, namentlich die gegen die Person ge¬
richteten, gestiegen seien. In dieser Vermehrung der letztgedachten Vergehen
sieht er das eigentlich Charakteristische der Sachlage. Und daran knüpft er den
Satz: "Unser geltendes Strafrecht ist machtlos gegenüber dem Verbrechertum."

Bleiben wir zunächst einen Augenblick bei diesem Satze stehen. Es ist
eine bekannte Erfahrung, daß die Zahl der Vergehen oder einzelner Arten der¬
selben im Laufe der Zeiten auf- und absteigt. Es ist auch gewiß von großem
Interesse, den jeweiligen Gründen dieser Erscheinung nachzuspüren. Diese
Gründe können sehr mannichfcicher Art sein. Sie können auch in Fehlern der
Strafrechtspflege liegen; und wenn Lißzt aus der Erscheinung der letzten Jahre
gefolgert Hütte, daß unsre Gerichte manche Vergehen, namentlich die gegen die
Person gerichtetem, zu gelinde straften, so würde sich dafür manches sagen lassen.
Was soll nun aber der Satz heißen: "Unser Strafrecht ist machtlos gegenüber
dem Verbrechertum" ? Folgt daraus, daß ein Teil der Vergehen sich vermehrt
hat, die Machtlosigkeit des Strafrechts? Glaubt Lißzt etwa, daß man ein
Strafrecht schaffen könne, bei dem die Vergehen fortwährend sich verminderten
und schließlich ganz verschwänden? Oder glaubt er behaupten zu können, daß,
auch wenn wir unsre heutige Strafrechtspflege ganz einstellten, doch nicht mehr
Vergehen als schon jetzt begangen werden würden? Wenn Lißzt nicht den
einen oder den andern dieser Sätze behaupten will, so entbehrt sein Ausspruch
von der Machtlosigkeit der Strafrechtspflege jedes Sinnes.

Lißzt bedarf aber dieses Ausspruchs, um seine weitern weltumgestaltenden
Gedanken darauf zu bauen. Er geht von dem an sich völlig richtigen Satze
"us, daß "das Strafurteil erst durch seinen Vollzug Inhalt und Bedeutung
gewinne." Daraus folgert er, daß es nicht bloß auf das Urteil, sondern auch
auf die Art der Vollziehung ankomme. Das bestreitet gewiß niemand. Auch


Das Neueste der Strafrechtswissenschaft

Lißzt beginnt seine Ausführung mit der Klage, daß die Krimiualpolitik,
d-h. die Wissenschaft davon, wie Strafrecht und Strafvollziehung zu gestalten
seien, allzu sehr hinter der Wissenschaft des positiven Strafrechts zurückgeblieben
sei. Man kann ihm in dieser Klage wohl beistimmen. Sie ist sogar in noch
griißerm Umfange berechtigt. Denn fast auf allen Gebieten des Rechtes ist
die Wissenschaft von dem, was Recht sein sollte, hinter der Wissenschaft von
dem bestehenden Rechte zurückgeblieben, wie sich dies jetzt bei den Erörterungen
über das bürgerliche Gesetzbuch recht schmerzlich fühlbar macht.

Als Grundlagen der Kriminalpolitik betrachtet Lißzt zwei neue Wissen¬
schaften, die Kriminalanthropolvgie und die Kriminalsoziologie. Wir gehen
über diese theoretischen Grundlagen hinweg und wenden uns sofort zu den
Ausführungen, mit welchen Lißzt praktische Ziele verbindet.

Lißzt ergeht sich zunächst in einer Darstellung des bestehenden Zustandes.
Er nimmt Bezug auf die Kriminalstatistik, die ergebe, daß im Laufe des letzten
Jahrzehntes zwar die Vergehen des Diebstahls und der Hehlerei abgenommen
hätten, dagegen alle übrigen Vergehen, namentlich die gegen die Person ge¬
richteten, gestiegen seien. In dieser Vermehrung der letztgedachten Vergehen
sieht er das eigentlich Charakteristische der Sachlage. Und daran knüpft er den
Satz: „Unser geltendes Strafrecht ist machtlos gegenüber dem Verbrechertum."

Bleiben wir zunächst einen Augenblick bei diesem Satze stehen. Es ist
eine bekannte Erfahrung, daß die Zahl der Vergehen oder einzelner Arten der¬
selben im Laufe der Zeiten auf- und absteigt. Es ist auch gewiß von großem
Interesse, den jeweiligen Gründen dieser Erscheinung nachzuspüren. Diese
Gründe können sehr mannichfcicher Art sein. Sie können auch in Fehlern der
Strafrechtspflege liegen; und wenn Lißzt aus der Erscheinung der letzten Jahre
gefolgert Hütte, daß unsre Gerichte manche Vergehen, namentlich die gegen die
Person gerichtetem, zu gelinde straften, so würde sich dafür manches sagen lassen.
Was soll nun aber der Satz heißen: „Unser Strafrecht ist machtlos gegenüber
dem Verbrechertum" ? Folgt daraus, daß ein Teil der Vergehen sich vermehrt
hat, die Machtlosigkeit des Strafrechts? Glaubt Lißzt etwa, daß man ein
Strafrecht schaffen könne, bei dem die Vergehen fortwährend sich verminderten
und schließlich ganz verschwänden? Oder glaubt er behaupten zu können, daß,
auch wenn wir unsre heutige Strafrechtspflege ganz einstellten, doch nicht mehr
Vergehen als schon jetzt begangen werden würden? Wenn Lißzt nicht den
einen oder den andern dieser Sätze behaupten will, so entbehrt sein Ausspruch
von der Machtlosigkeit der Strafrechtspflege jedes Sinnes.

Lißzt bedarf aber dieses Ausspruchs, um seine weitern weltumgestaltenden
Gedanken darauf zu bauen. Er geht von dem an sich völlig richtigen Satze
"us, daß „das Strafurteil erst durch seinen Vollzug Inhalt und Bedeutung
gewinne." Daraus folgert er, daß es nicht bloß auf das Urteil, sondern auch
auf die Art der Vollziehung ankomme. Das bestreitet gewiß niemand. Auch


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[0167] Das Neueste der Strafrechtswissenschaft Lißzt beginnt seine Ausführung mit der Klage, daß die Krimiualpolitik, d-h. die Wissenschaft davon, wie Strafrecht und Strafvollziehung zu gestalten seien, allzu sehr hinter der Wissenschaft des positiven Strafrechts zurückgeblieben sei. Man kann ihm in dieser Klage wohl beistimmen. Sie ist sogar in noch griißerm Umfange berechtigt. Denn fast auf allen Gebieten des Rechtes ist die Wissenschaft von dem, was Recht sein sollte, hinter der Wissenschaft von dem bestehenden Rechte zurückgeblieben, wie sich dies jetzt bei den Erörterungen über das bürgerliche Gesetzbuch recht schmerzlich fühlbar macht. Als Grundlagen der Kriminalpolitik betrachtet Lißzt zwei neue Wissen¬ schaften, die Kriminalanthropolvgie und die Kriminalsoziologie. Wir gehen über diese theoretischen Grundlagen hinweg und wenden uns sofort zu den Ausführungen, mit welchen Lißzt praktische Ziele verbindet. Lißzt ergeht sich zunächst in einer Darstellung des bestehenden Zustandes. Er nimmt Bezug auf die Kriminalstatistik, die ergebe, daß im Laufe des letzten Jahrzehntes zwar die Vergehen des Diebstahls und der Hehlerei abgenommen hätten, dagegen alle übrigen Vergehen, namentlich die gegen die Person ge¬ richteten, gestiegen seien. In dieser Vermehrung der letztgedachten Vergehen sieht er das eigentlich Charakteristische der Sachlage. Und daran knüpft er den Satz: „Unser geltendes Strafrecht ist machtlos gegenüber dem Verbrechertum." Bleiben wir zunächst einen Augenblick bei diesem Satze stehen. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß die Zahl der Vergehen oder einzelner Arten der¬ selben im Laufe der Zeiten auf- und absteigt. Es ist auch gewiß von großem Interesse, den jeweiligen Gründen dieser Erscheinung nachzuspüren. Diese Gründe können sehr mannichfcicher Art sein. Sie können auch in Fehlern der Strafrechtspflege liegen; und wenn Lißzt aus der Erscheinung der letzten Jahre gefolgert Hütte, daß unsre Gerichte manche Vergehen, namentlich die gegen die Person gerichtetem, zu gelinde straften, so würde sich dafür manches sagen lassen. Was soll nun aber der Satz heißen: „Unser Strafrecht ist machtlos gegenüber dem Verbrechertum" ? Folgt daraus, daß ein Teil der Vergehen sich vermehrt hat, die Machtlosigkeit des Strafrechts? Glaubt Lißzt etwa, daß man ein Strafrecht schaffen könne, bei dem die Vergehen fortwährend sich verminderten und schließlich ganz verschwänden? Oder glaubt er behaupten zu können, daß, auch wenn wir unsre heutige Strafrechtspflege ganz einstellten, doch nicht mehr Vergehen als schon jetzt begangen werden würden? Wenn Lißzt nicht den einen oder den andern dieser Sätze behaupten will, so entbehrt sein Ausspruch von der Machtlosigkeit der Strafrechtspflege jedes Sinnes. Lißzt bedarf aber dieses Ausspruchs, um seine weitern weltumgestaltenden Gedanken darauf zu bauen. Er geht von dem an sich völlig richtigen Satze "us, daß „das Strafurteil erst durch seinen Vollzug Inhalt und Bedeutung gewinne." Daraus folgert er, daß es nicht bloß auf das Urteil, sondern auch auf die Art der Vollziehung ankomme. Das bestreitet gewiß niemand. Auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/167>, abgerufen am 25.05.2024.