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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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wenn fort und fort von einer neuen Anschauung, von den bewegenden geistigen
Mächten der Zeit, von den ernsten Forderungen der Stunde die Rede ist, und
keiner, keiner zu sagen weiß, wohin diese Mächte treiben und was gefordert
wird? "Bruch mit der alten Weltanschauung" -- wenn es mehr sein soll als
Phrase, mehr als eine litterarische Losung, so müßten wir doch irgendeinmal und
irgendwo den Menschen, die Gruppe, die stille Gemeinde der Gestalten verkörpert
bekommen, in denen der neue Glaube etwas andres hervorgebracht hat als einen
malaiischen Wutlanf gegen die Welt, die versunken sein soll, zur Zeit noch vor¬
handen ist und wahrscheinlich immer vorhanden sein wird. Selbst wenn
die Vertreter der streitenden Kunst, der allein lebendigen und lebenskräftigen
Litteratur, einräumten, daß sie einzig auf die Welterlösung durch den umstürzenden
Anarchismus hoffen (sie räumen es bekanntlich nicht ein, sie fordern von Kaiser
und Reich, von Wissenschaft und Gesellschaft Unterstützung, Teilnahme. Aner¬
kennung), müßten ihre Weltbilder sich doch noch anders aufnehmen, als es zur
Zeit der Fall ist. Denn sogar in den sozialdemokratisch versetzten, vergifteten
Massen ist-- des sind wir gewiß -- noch eine Fülle von Einzelkraft, von schlichtem,
Mi- oder halbausgesprochenem, aber lebendig wirksamen Gefühl, vom menschen¬
würdigen Ernst wie von verborgnen Reiz des Lebens, neben Not, Elend,
Phantastischer Begehrlichkeit vorhanden, auch hier ist die Wirklichkeit nicht so
arm, so grau eintönig, so ganz und gar schmutzig und greuelvoll, wie die
streitende Kunst sie verkörpert. Diese streitende Kunst wird sich nie in eine
siegende, eine triumphirende verwandeln, so lange sie sich allein in diesem er¬
stickend engen, ohne jede Not, ohne jedes geistige Bedürfnis (als dem Wunsche
nach neuem theatralischen Effekt und neuer Nomanspannuug) gezognen Kreise
bewegt. Erhebt sie sich darüber, ja sprengt sie ihn nur, thut sie einen Schritt
in die Mannichfaltigkeit des Lebens, in das Gebiet der Anmut hinaus, von dein
der Schönheit ganz zu schweigen, so ist sie eben nicht mehr die streitende, nicht
Mehr die Litteratur, die feindselig gegen die Dichtung aller vergangnen Zeiten
und damit gegen die viel angerufene Natur selbst in Waffen steht. Nicht im
Namen irgend welcher Bildung, nicht unter Berufung auf Formeln und Regeln,
"icht mit Beschwörung von Autoritäten und Mustern sollen wir der streitenden
Kunst entgegentreten, sondern in dem Gefühl, in der Gewißheit des Lebens,
unsers Lebens, dem diese Kunst entweder garnicht oder unerquicklich dürftig
und einseitig gerecht wird.

Man darf erfahruugsmüßig keine allzu hohen Anforderungen an das ver¬
ehrliche deutsche Publikum stellen. So viel aber sollte man doch fordern
können, daß es gefälligst seine Augen aufthue, sein eignes Dasein und das
Dasein, sagen wir auch mir der Hälfte seiner Mitmenschen, mit den Bildern ver¬
gleiche, die ihm fort und fort in Dreckfarben oder grellen Ziegelfarben, wies eben
^ille, von diesem Dasein gemalt werden, um es zu einigen, Nachdenken und einem
^'n selbst aus diesen, Nachdenken folgenden energischen Protest zu veranlassen.




wenn fort und fort von einer neuen Anschauung, von den bewegenden geistigen
Mächten der Zeit, von den ernsten Forderungen der Stunde die Rede ist, und
keiner, keiner zu sagen weiß, wohin diese Mächte treiben und was gefordert
wird? „Bruch mit der alten Weltanschauung" — wenn es mehr sein soll als
Phrase, mehr als eine litterarische Losung, so müßten wir doch irgendeinmal und
irgendwo den Menschen, die Gruppe, die stille Gemeinde der Gestalten verkörpert
bekommen, in denen der neue Glaube etwas andres hervorgebracht hat als einen
malaiischen Wutlanf gegen die Welt, die versunken sein soll, zur Zeit noch vor¬
handen ist und wahrscheinlich immer vorhanden sein wird. Selbst wenn
die Vertreter der streitenden Kunst, der allein lebendigen und lebenskräftigen
Litteratur, einräumten, daß sie einzig auf die Welterlösung durch den umstürzenden
Anarchismus hoffen (sie räumen es bekanntlich nicht ein, sie fordern von Kaiser
und Reich, von Wissenschaft und Gesellschaft Unterstützung, Teilnahme. Aner¬
kennung), müßten ihre Weltbilder sich doch noch anders aufnehmen, als es zur
Zeit der Fall ist. Denn sogar in den sozialdemokratisch versetzten, vergifteten
Massen ist— des sind wir gewiß — noch eine Fülle von Einzelkraft, von schlichtem,
Mi- oder halbausgesprochenem, aber lebendig wirksamen Gefühl, vom menschen¬
würdigen Ernst wie von verborgnen Reiz des Lebens, neben Not, Elend,
Phantastischer Begehrlichkeit vorhanden, auch hier ist die Wirklichkeit nicht so
arm, so grau eintönig, so ganz und gar schmutzig und greuelvoll, wie die
streitende Kunst sie verkörpert. Diese streitende Kunst wird sich nie in eine
siegende, eine triumphirende verwandeln, so lange sie sich allein in diesem er¬
stickend engen, ohne jede Not, ohne jedes geistige Bedürfnis (als dem Wunsche
nach neuem theatralischen Effekt und neuer Nomanspannuug) gezognen Kreise
bewegt. Erhebt sie sich darüber, ja sprengt sie ihn nur, thut sie einen Schritt
in die Mannichfaltigkeit des Lebens, in das Gebiet der Anmut hinaus, von dein
der Schönheit ganz zu schweigen, so ist sie eben nicht mehr die streitende, nicht
Mehr die Litteratur, die feindselig gegen die Dichtung aller vergangnen Zeiten
und damit gegen die viel angerufene Natur selbst in Waffen steht. Nicht im
Namen irgend welcher Bildung, nicht unter Berufung auf Formeln und Regeln,
"icht mit Beschwörung von Autoritäten und Mustern sollen wir der streitenden
Kunst entgegentreten, sondern in dem Gefühl, in der Gewißheit des Lebens,
unsers Lebens, dem diese Kunst entweder garnicht oder unerquicklich dürftig
und einseitig gerecht wird.

Man darf erfahruugsmüßig keine allzu hohen Anforderungen an das ver¬
ehrliche deutsche Publikum stellen. So viel aber sollte man doch fordern
können, daß es gefälligst seine Augen aufthue, sein eignes Dasein und das
Dasein, sagen wir auch mir der Hälfte seiner Mitmenschen, mit den Bildern ver¬
gleiche, die ihm fort und fort in Dreckfarben oder grellen Ziegelfarben, wies eben
^ille, von diesem Dasein gemalt werden, um es zu einigen, Nachdenken und einem
^'n selbst aus diesen, Nachdenken folgenden energischen Protest zu veranlassen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/541>, abgerufen am 27.05.2024.