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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Die Klassiker werden mit Hilfe deutscher Übersetzungen gelesen, es werden
nur noch eine Anzahl Vokabeln, die Deklinationen und -- man höre! -- die
Präpositionen gelernt. Er Hütte ebenso gut die Konjunktionen oder Jnter¬
jektionen nennen können. Warum aber wirft er diese jämmerliche Dürftigkeit
nicht lieber gleich über Bord, statt solche Brocken uoch verschämt beizubehalten ?

Im deutschen Unterrichte will Herr Güßfeldt die Übung in der freien
Rede mehr berücksichtigt wissen. Er sagt: "Im höhern Sinn besteht die Kunst
der Rede in guten Einfällen, in der Fähigkeit, einen Ideengang festzuhalten
oder zu übersehen und schnell das richtige Wort zu finden. Die Ideen brauchen
nicht tief, sondern nur wahr und packend zu sein." Das ist gewiß für viele
Fälle richtig. Allem freien Sprechen geht bei den meisten Menschen die Über¬
windung einer gewissen Scheu voraus, und solche Scheu zurückzudrängen, ist
allerdings eine Charakterübung für den Schüler. Sie wird aber auch über¬
wunden dnrch das Deklamiren von Gedichten vor einem größern Zuhörerkreise.
Hat sich der Mensch dann einmal daran gewöhnt, viele Köpfe auf sich gerichtet
M sehen, ohne ans dein Text zu fallen, so wird er auch öffentlich reden können,
wenn er nur Gedanken hat. Wir fragen heute uicht so sehr darnach, wie
geredet wird, als darnach, was geredet wird. Wenn Fürst Vismarck sprach,
buschte die ganze Welt, auch wenn seine Zunge schwer war. Der Gedanke
schafft sich die Form. Was soll man aber sagen, wenn Herr Güßfeldt fort¬
fährt: "Das Geheimnis, die Scheu zu überwinden, beruht darauf, daß es auf
einen streng logischen Zusammenhang gar nicht so sehr ankommt. Ist der
Faden abgerissen, so sucht man ihn nicht unter drangvoller Stille zusammen¬
zuknüpfen,' sondern nimmt irgend einen neuen (!) auf und überlaßt es der glück¬
lichen Entwicklung, das abgerissene Ende auf anderm Wege wiederzufinden."
Die alten Nhetorenschulen leben wieder ans! Der logische Zusammenhang ist
Nebensache, wenn nur der Faden dein geschwätzigen Jüngling nicht abreißt-
Als ob wir an Schwätzern nicht schon genng Hütten! Für die Jugend ist das
Veste gerade gut genug. Das Ideal, das uns Herr Güßfeldt empfiehlt, steht
unter der Mittelmüßigkeit; das Streben darnach würe unsittlich, weil es die
Oberflächlichkeit, die Unwahrhaftigkeit und den Selbstbetrug fördern würde.

Auch über den Religionsunterricht in der Zukunftsschule hat sich Herr
^üßfiM ausgelassen. Religion wird fortan nicht mehr in der Schule gelehrt,
sondern bleibt den Geistlichen der einzelnen Religionsgesellschafte" überlasten.
Du trifft er ja von andrer Seite her mit dem Windthorstschen Schulantrage
zusammen! Da er jedoch "Keime der Irreligiosität" im Menschen annimmt
(bisher habe ich immer mir von Keimen der Religion gehört), so soll auch
w seiner Schule el" sage" wir Religionsunterricht stattfinde", und zwar
^it "darin das religiöse Gefühl überhaupt" behandelt werden. Es soll die
^deutung des Glaubens gezeigt werden; welcher Glaube das ist, braucht nach
Herrn Güßfeldt nicht untersucht zu werde". Aber eine" Glauben ohne festen


Grenzboten II 189"
Unterricht und Erziehung

Die Klassiker werden mit Hilfe deutscher Übersetzungen gelesen, es werden
nur noch eine Anzahl Vokabeln, die Deklinationen und — man höre! — die
Präpositionen gelernt. Er Hütte ebenso gut die Konjunktionen oder Jnter¬
jektionen nennen können. Warum aber wirft er diese jämmerliche Dürftigkeit
nicht lieber gleich über Bord, statt solche Brocken uoch verschämt beizubehalten ?

Im deutschen Unterrichte will Herr Güßfeldt die Übung in der freien
Rede mehr berücksichtigt wissen. Er sagt: „Im höhern Sinn besteht die Kunst
der Rede in guten Einfällen, in der Fähigkeit, einen Ideengang festzuhalten
oder zu übersehen und schnell das richtige Wort zu finden. Die Ideen brauchen
nicht tief, sondern nur wahr und packend zu sein." Das ist gewiß für viele
Fälle richtig. Allem freien Sprechen geht bei den meisten Menschen die Über¬
windung einer gewissen Scheu voraus, und solche Scheu zurückzudrängen, ist
allerdings eine Charakterübung für den Schüler. Sie wird aber auch über¬
wunden dnrch das Deklamiren von Gedichten vor einem größern Zuhörerkreise.
Hat sich der Mensch dann einmal daran gewöhnt, viele Köpfe auf sich gerichtet
M sehen, ohne ans dein Text zu fallen, so wird er auch öffentlich reden können,
wenn er nur Gedanken hat. Wir fragen heute uicht so sehr darnach, wie
geredet wird, als darnach, was geredet wird. Wenn Fürst Vismarck sprach,
buschte die ganze Welt, auch wenn seine Zunge schwer war. Der Gedanke
schafft sich die Form. Was soll man aber sagen, wenn Herr Güßfeldt fort¬
fährt: „Das Geheimnis, die Scheu zu überwinden, beruht darauf, daß es auf
einen streng logischen Zusammenhang gar nicht so sehr ankommt. Ist der
Faden abgerissen, so sucht man ihn nicht unter drangvoller Stille zusammen¬
zuknüpfen,' sondern nimmt irgend einen neuen (!) auf und überlaßt es der glück¬
lichen Entwicklung, das abgerissene Ende auf anderm Wege wiederzufinden."
Die alten Nhetorenschulen leben wieder ans! Der logische Zusammenhang ist
Nebensache, wenn nur der Faden dein geschwätzigen Jüngling nicht abreißt-
Als ob wir an Schwätzern nicht schon genng Hütten! Für die Jugend ist das
Veste gerade gut genug. Das Ideal, das uns Herr Güßfeldt empfiehlt, steht
unter der Mittelmüßigkeit; das Streben darnach würe unsittlich, weil es die
Oberflächlichkeit, die Unwahrhaftigkeit und den Selbstbetrug fördern würde.

Auch über den Religionsunterricht in der Zukunftsschule hat sich Herr
^üßfiM ausgelassen. Religion wird fortan nicht mehr in der Schule gelehrt,
sondern bleibt den Geistlichen der einzelnen Religionsgesellschafte» überlasten.
Du trifft er ja von andrer Seite her mit dem Windthorstschen Schulantrage
zusammen! Da er jedoch „Keime der Irreligiosität" im Menschen annimmt
(bisher habe ich immer mir von Keimen der Religion gehört), so soll auch
w seiner Schule el» sage» wir Religionsunterricht stattfinde», und zwar
^it „darin das religiöse Gefühl überhaupt" behandelt werden. Es soll die
^deutung des Glaubens gezeigt werden; welcher Glaube das ist, braucht nach
Herrn Güßfeldt nicht untersucht zu werde». Aber eine» Glauben ohne festen


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[0233] Unterricht und Erziehung Die Klassiker werden mit Hilfe deutscher Übersetzungen gelesen, es werden nur noch eine Anzahl Vokabeln, die Deklinationen und — man höre! — die Präpositionen gelernt. Er Hütte ebenso gut die Konjunktionen oder Jnter¬ jektionen nennen können. Warum aber wirft er diese jämmerliche Dürftigkeit nicht lieber gleich über Bord, statt solche Brocken uoch verschämt beizubehalten ? Im deutschen Unterrichte will Herr Güßfeldt die Übung in der freien Rede mehr berücksichtigt wissen. Er sagt: „Im höhern Sinn besteht die Kunst der Rede in guten Einfällen, in der Fähigkeit, einen Ideengang festzuhalten oder zu übersehen und schnell das richtige Wort zu finden. Die Ideen brauchen nicht tief, sondern nur wahr und packend zu sein." Das ist gewiß für viele Fälle richtig. Allem freien Sprechen geht bei den meisten Menschen die Über¬ windung einer gewissen Scheu voraus, und solche Scheu zurückzudrängen, ist allerdings eine Charakterübung für den Schüler. Sie wird aber auch über¬ wunden dnrch das Deklamiren von Gedichten vor einem größern Zuhörerkreise. Hat sich der Mensch dann einmal daran gewöhnt, viele Köpfe auf sich gerichtet M sehen, ohne ans dein Text zu fallen, so wird er auch öffentlich reden können, wenn er nur Gedanken hat. Wir fragen heute uicht so sehr darnach, wie geredet wird, als darnach, was geredet wird. Wenn Fürst Vismarck sprach, buschte die ganze Welt, auch wenn seine Zunge schwer war. Der Gedanke schafft sich die Form. Was soll man aber sagen, wenn Herr Güßfeldt fort¬ fährt: „Das Geheimnis, die Scheu zu überwinden, beruht darauf, daß es auf einen streng logischen Zusammenhang gar nicht so sehr ankommt. Ist der Faden abgerissen, so sucht man ihn nicht unter drangvoller Stille zusammen¬ zuknüpfen,' sondern nimmt irgend einen neuen (!) auf und überlaßt es der glück¬ lichen Entwicklung, das abgerissene Ende auf anderm Wege wiederzufinden." Die alten Nhetorenschulen leben wieder ans! Der logische Zusammenhang ist Nebensache, wenn nur der Faden dein geschwätzigen Jüngling nicht abreißt- Als ob wir an Schwätzern nicht schon genng Hütten! Für die Jugend ist das Veste gerade gut genug. Das Ideal, das uns Herr Güßfeldt empfiehlt, steht unter der Mittelmüßigkeit; das Streben darnach würe unsittlich, weil es die Oberflächlichkeit, die Unwahrhaftigkeit und den Selbstbetrug fördern würde. Auch über den Religionsunterricht in der Zukunftsschule hat sich Herr ^üßfiM ausgelassen. Religion wird fortan nicht mehr in der Schule gelehrt, sondern bleibt den Geistlichen der einzelnen Religionsgesellschafte» überlasten. Du trifft er ja von andrer Seite her mit dem Windthorstschen Schulantrage zusammen! Da er jedoch „Keime der Irreligiosität" im Menschen annimmt (bisher habe ich immer mir von Keimen der Religion gehört), so soll auch w seiner Schule el» sage» wir Religionsunterricht stattfinde», und zwar ^it „darin das religiöse Gefühl überhaupt" behandelt werden. Es soll die ^deutung des Glaubens gezeigt werden; welcher Glaube das ist, braucht nach Herrn Güßfeldt nicht untersucht zu werde». Aber eine» Glauben ohne festen Grenzboten II 189»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/233>, abgerufen am 15.06.2024.