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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Auslagen für die Erziehung der Kinder. Bei den untersten Klassen der ge¬
nannten Berufsstnnde reichen nun die Einkünfte zur Bestreitung aller dieser
Ausgaben nicht hin, bei den Unterbeamten wenigstens dann nicht, wenn sie
viel Kinder haben. Wir ziehen dabei solche außerordentliche Fülle gar nicht
in Betracht, wie den einer Arbeiterin in einer Spielwarenfabrik, die neulich
wegen Unterschlagung einiger Bleiabfülle angeklagt, vor Gericht nachzuweisen
vermochte, das; sich ihr Wochenlohn auf zwei Mark beläuft. (Sie wurde zu
sechs Mark Geldstrafe verurteilt; wovon soll sie die bezahlen?) Sondern wir
halten uns an ganze größere Gruppen. Die "Schlesische Zeitung," ein
regierungsfreundliches und der freikouservativen Partei nahestehendes, in allen
seinen Nachrichten und Angaben sehr vorsichtiges und zuverlässiges Blatt, be¬
richtete am 26. März d. I. über den Winterverdienst in der Grafschaft Glatz,
die nicht zu den wohlhabenden, aber auch noch nicht zu den ärmsten Gegenden
unsers Vaterlandes gehört. Der ländliche Tagelöhner verdient dort im Winter,
vorausgesetzt, daß er Arbeit bekommt, 70 bis 80 Pfennige täglich, also
4,90 bis 5,60 Mark wöchentlich; der Handwerker und seine Frau bringen es
zusammen auf 6 Mark wöchentlich; bei der Anfertigung von Streichholz¬
schachteln verdient ein fleißiger Arbeiter in voller Tagesarbeit 60 Pfennige,
wovon aber die Auslage für Klebstoff abzuziehen ist; das macht wöchentlich
nicht ganz 4 Mark 20 Pfennige, wenn er Sonntags feiert. In den preußischen
Zuchthäusern werden auf die tägliche Beköstigung des Mannes 30 bis 31 Pfennige
gerechnet. Da nun aber die Tagelöhuerfrau bei ihrem Einzeleiukauf für das¬
selbe Geld nicht allein weniger, sondern anch schlechtere Ware bekommt (beim
Fleischkanf gewöhnlich nur Sehnen und Knochen) als jede im ganzen ein¬
laufende Anstaltsverwaltung, so müßte sie allermindestens 35 Pfennige für den
Kopf der erwachsenen Person aufwenden, um den Ihrigen dasselbe Essen auf
den Tisch setzen zu können, wie es die Zuchthäusler bekommen. Das würde
für eine Person 2,45 Mark, für zwei Personen 4,90 Mark, sür Mann, Frnu
und zwei Kinder 7,35 Mark die Woche machen. Wo blieben da die andern
Ausgaben? Es steht also fest, daß die untersten Lohnsätze, wenigstens für
Familien, zum notdürftigen Lebensunterhalt nicht hinreichen.

Zum Glück erfreuen sich die meisten Angehörigen der genannten Berufs¬
stände höherer Einnahmen; und selbst in der Grafschaft Glatz bringen es die
Fabrikarbeiter auf 1,30 Mark täglich, also auf 7,80 Mark die Woche. Bei
einem Wochenverdienst von 7,80 Mark könnte nur der Einzelne und bei einem
Gesamtverdienst von 12 bis 20 Mark könnte eine kleine Familie durchkommen,
wenn ^- die Mode uicht wäre. Die Tyrannei der Mode, die zur "standes¬
gemäßen Lebenshaltung und Lebensführung" zwingt, drückt alle Klassen vom
Minister bis zum Kühjnngen herab. Denn auch der Kühjunge darf Sonntags
uicht mehr in der kurzen Jacke erscheinen (der Abcndmahlsrock wurde früher
nicht an jedem beliebigen Sonntage getragen und mußte mindestens drei Ge-


Die soziale Frage

Auslagen für die Erziehung der Kinder. Bei den untersten Klassen der ge¬
nannten Berufsstnnde reichen nun die Einkünfte zur Bestreitung aller dieser
Ausgaben nicht hin, bei den Unterbeamten wenigstens dann nicht, wenn sie
viel Kinder haben. Wir ziehen dabei solche außerordentliche Fülle gar nicht
in Betracht, wie den einer Arbeiterin in einer Spielwarenfabrik, die neulich
wegen Unterschlagung einiger Bleiabfülle angeklagt, vor Gericht nachzuweisen
vermochte, das; sich ihr Wochenlohn auf zwei Mark beläuft. (Sie wurde zu
sechs Mark Geldstrafe verurteilt; wovon soll sie die bezahlen?) Sondern wir
halten uns an ganze größere Gruppen. Die „Schlesische Zeitung," ein
regierungsfreundliches und der freikouservativen Partei nahestehendes, in allen
seinen Nachrichten und Angaben sehr vorsichtiges und zuverlässiges Blatt, be¬
richtete am 26. März d. I. über den Winterverdienst in der Grafschaft Glatz,
die nicht zu den wohlhabenden, aber auch noch nicht zu den ärmsten Gegenden
unsers Vaterlandes gehört. Der ländliche Tagelöhner verdient dort im Winter,
vorausgesetzt, daß er Arbeit bekommt, 70 bis 80 Pfennige täglich, also
4,90 bis 5,60 Mark wöchentlich; der Handwerker und seine Frau bringen es
zusammen auf 6 Mark wöchentlich; bei der Anfertigung von Streichholz¬
schachteln verdient ein fleißiger Arbeiter in voller Tagesarbeit 60 Pfennige,
wovon aber die Auslage für Klebstoff abzuziehen ist; das macht wöchentlich
nicht ganz 4 Mark 20 Pfennige, wenn er Sonntags feiert. In den preußischen
Zuchthäusern werden auf die tägliche Beköstigung des Mannes 30 bis 31 Pfennige
gerechnet. Da nun aber die Tagelöhuerfrau bei ihrem Einzeleiukauf für das¬
selbe Geld nicht allein weniger, sondern anch schlechtere Ware bekommt (beim
Fleischkanf gewöhnlich nur Sehnen und Knochen) als jede im ganzen ein¬
laufende Anstaltsverwaltung, so müßte sie allermindestens 35 Pfennige für den
Kopf der erwachsenen Person aufwenden, um den Ihrigen dasselbe Essen auf
den Tisch setzen zu können, wie es die Zuchthäusler bekommen. Das würde
für eine Person 2,45 Mark, für zwei Personen 4,90 Mark, sür Mann, Frnu
und zwei Kinder 7,35 Mark die Woche machen. Wo blieben da die andern
Ausgaben? Es steht also fest, daß die untersten Lohnsätze, wenigstens für
Familien, zum notdürftigen Lebensunterhalt nicht hinreichen.

Zum Glück erfreuen sich die meisten Angehörigen der genannten Berufs¬
stände höherer Einnahmen; und selbst in der Grafschaft Glatz bringen es die
Fabrikarbeiter auf 1,30 Mark täglich, also auf 7,80 Mark die Woche. Bei
einem Wochenverdienst von 7,80 Mark könnte nur der Einzelne und bei einem
Gesamtverdienst von 12 bis 20 Mark könnte eine kleine Familie durchkommen,
wenn ^- die Mode uicht wäre. Die Tyrannei der Mode, die zur „standes¬
gemäßen Lebenshaltung und Lebensführung" zwingt, drückt alle Klassen vom
Minister bis zum Kühjnngen herab. Denn auch der Kühjunge darf Sonntags
uicht mehr in der kurzen Jacke erscheinen (der Abcndmahlsrock wurde früher
nicht an jedem beliebigen Sonntage getragen und mußte mindestens drei Ge-


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[0446] Die soziale Frage Auslagen für die Erziehung der Kinder. Bei den untersten Klassen der ge¬ nannten Berufsstnnde reichen nun die Einkünfte zur Bestreitung aller dieser Ausgaben nicht hin, bei den Unterbeamten wenigstens dann nicht, wenn sie viel Kinder haben. Wir ziehen dabei solche außerordentliche Fülle gar nicht in Betracht, wie den einer Arbeiterin in einer Spielwarenfabrik, die neulich wegen Unterschlagung einiger Bleiabfülle angeklagt, vor Gericht nachzuweisen vermochte, das; sich ihr Wochenlohn auf zwei Mark beläuft. (Sie wurde zu sechs Mark Geldstrafe verurteilt; wovon soll sie die bezahlen?) Sondern wir halten uns an ganze größere Gruppen. Die „Schlesische Zeitung," ein regierungsfreundliches und der freikouservativen Partei nahestehendes, in allen seinen Nachrichten und Angaben sehr vorsichtiges und zuverlässiges Blatt, be¬ richtete am 26. März d. I. über den Winterverdienst in der Grafschaft Glatz, die nicht zu den wohlhabenden, aber auch noch nicht zu den ärmsten Gegenden unsers Vaterlandes gehört. Der ländliche Tagelöhner verdient dort im Winter, vorausgesetzt, daß er Arbeit bekommt, 70 bis 80 Pfennige täglich, also 4,90 bis 5,60 Mark wöchentlich; der Handwerker und seine Frau bringen es zusammen auf 6 Mark wöchentlich; bei der Anfertigung von Streichholz¬ schachteln verdient ein fleißiger Arbeiter in voller Tagesarbeit 60 Pfennige, wovon aber die Auslage für Klebstoff abzuziehen ist; das macht wöchentlich nicht ganz 4 Mark 20 Pfennige, wenn er Sonntags feiert. In den preußischen Zuchthäusern werden auf die tägliche Beköstigung des Mannes 30 bis 31 Pfennige gerechnet. Da nun aber die Tagelöhuerfrau bei ihrem Einzeleiukauf für das¬ selbe Geld nicht allein weniger, sondern anch schlechtere Ware bekommt (beim Fleischkanf gewöhnlich nur Sehnen und Knochen) als jede im ganzen ein¬ laufende Anstaltsverwaltung, so müßte sie allermindestens 35 Pfennige für den Kopf der erwachsenen Person aufwenden, um den Ihrigen dasselbe Essen auf den Tisch setzen zu können, wie es die Zuchthäusler bekommen. Das würde für eine Person 2,45 Mark, für zwei Personen 4,90 Mark, sür Mann, Frnu und zwei Kinder 7,35 Mark die Woche machen. Wo blieben da die andern Ausgaben? Es steht also fest, daß die untersten Lohnsätze, wenigstens für Familien, zum notdürftigen Lebensunterhalt nicht hinreichen. Zum Glück erfreuen sich die meisten Angehörigen der genannten Berufs¬ stände höherer Einnahmen; und selbst in der Grafschaft Glatz bringen es die Fabrikarbeiter auf 1,30 Mark täglich, also auf 7,80 Mark die Woche. Bei einem Wochenverdienst von 7,80 Mark könnte nur der Einzelne und bei einem Gesamtverdienst von 12 bis 20 Mark könnte eine kleine Familie durchkommen, wenn ^- die Mode uicht wäre. Die Tyrannei der Mode, die zur „standes¬ gemäßen Lebenshaltung und Lebensführung" zwingt, drückt alle Klassen vom Minister bis zum Kühjnngen herab. Denn auch der Kühjunge darf Sonntags uicht mehr in der kurzen Jacke erscheinen (der Abcndmahlsrock wurde früher nicht an jedem beliebigen Sonntage getragen und mußte mindestens drei Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/446>, abgerufen am 15.06.2024.