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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Alnmneninserinnerungen

bestand etwa aus vier Sopranisten und zwei oder drei Mister, Tenoristen und
Bassisten. An der Spitze jeder "Part" stand ein "Vorsänger," an der Spitze
jedes "Chors" ein "Präfekt." Die beiden ersten in jeder Stimme hießen und
waren "Solofänger."

Diese ganze Einteilung wurde zu Beginn jedes Semesters, zu Ostern und zu
Michaeli, von neuem festgestellt. Wer in der Zwischenzeit die Stimme wechselte,
aus dem Sopran in den Alt, in den Tenor oder, was auch geschah, in den
Baß umschuappte, mußte bis zu Ende des Semesters in der bisherigen Stimme
weiterpfeifen. Schonung gab es da nicht. Am Semesterschluß hielt der Kantor
eine kurze Stimmprvbe ab; uach deren Ausfall wurde die Neuordnung der
Parder vorgenommen, bei der zugleich die Neulinge mit eingereiht wurden.
Ein einzigesmal kam es vor, daß der Kantor mitten im Semester einen in
eine andre Stimme steckte. Er hatte in der Siugestunde gehört, wie einer
im Sopran fortwährend "überschnappte"; da neigte er sein Haupt, horchte
herum, bis er ihn herausgefunden hatte, und führte ihn stillschweigend am
Ohrläppchen zu den Tenoristen. Freilich gab es auch Fälle, wo die Jungen
selbst so lange als möglich in einer Stimme zu bleiben suchten. Die beiden
Solofänger im Sopran führten einen besondern, sehr vornehmen Titel: sie
hießen "Natsdiskautisteu," und mit diesem Titel war eine schöne Einnahme ver¬
bunden, sie bekamen jeder allmonatlich vom Rate einen Thaler, gewiß infolge
einer Stiftung, die in alten Zeiten einmal jemand, der in die Jungen verliebt
gewesen war, gemacht hatte. Schon um dieser Einnahme Nullen, noch mehr
aber nur der sonstigen Einnahmen Nullen, die den Solvsüngeru zuflössen, suchten
sie so lange, als es die Stimme irgend hergab, in dieser Stellung zu bleiben.
Welcher Kummer, wen" dann das hohe a nur uoch mit Fistelstimme zu ermög¬
lichen war, dann auch das hö, das k, und endlich gar die Mittellage rauh und
krähig wurde, sodaß man den Natsdiskantisten spöttisch einen Raazdiskantisten
nannte!

Entworfen wurde die neue Ordnung stets vom Kantor in Gemeinschaft
mit den beiden Präfekten, und zwar in der Wohnung des Kantors, wobei es
gewöhnlich ein Fläschchen Wein gab. Die entscheidende Stimme hatten aber
doch die Präfekten, die ja die Einzelnen viel genauer kannten als der Kantor.
Daher wurden auch vorher eine Menge Bitten an die Präfekten gebracht: dn
wollte der und der Vorsänger gern den und den Sopranisten in seine Part
haben, da wollten hier ein paar Busenfreunde, dort ein paar Landsleute zu-
sammen in eine Part gesteckt fein, und was dergleichen mehr war. Wenn dann
die Präfekten mit dem frisch geschriebenen "Chorzettel" ans der Kantorwohnung
kamen -- welches Gedränge um die Küchenthür auf der Tablate, wo er nach
altem Herkommen angeschlagen wurde! Da gab es frohe und enttäuschte Gesichter.
Die Einrichtung des Chorzettcls sehe ich noch deutlich vor mir. Links standen in
zwei Kolumnen die beiden Chöre, rechts oben die Amtsparten, darunter die


Alnmneninserinnerungen

bestand etwa aus vier Sopranisten und zwei oder drei Mister, Tenoristen und
Bassisten. An der Spitze jeder „Part" stand ein „Vorsänger," an der Spitze
jedes „Chors" ein „Präfekt." Die beiden ersten in jeder Stimme hießen und
waren „Solofänger."

Diese ganze Einteilung wurde zu Beginn jedes Semesters, zu Ostern und zu
Michaeli, von neuem festgestellt. Wer in der Zwischenzeit die Stimme wechselte,
aus dem Sopran in den Alt, in den Tenor oder, was auch geschah, in den
Baß umschuappte, mußte bis zu Ende des Semesters in der bisherigen Stimme
weiterpfeifen. Schonung gab es da nicht. Am Semesterschluß hielt der Kantor
eine kurze Stimmprvbe ab; uach deren Ausfall wurde die Neuordnung der
Parder vorgenommen, bei der zugleich die Neulinge mit eingereiht wurden.
Ein einzigesmal kam es vor, daß der Kantor mitten im Semester einen in
eine andre Stimme steckte. Er hatte in der Siugestunde gehört, wie einer
im Sopran fortwährend „überschnappte"; da neigte er sein Haupt, horchte
herum, bis er ihn herausgefunden hatte, und führte ihn stillschweigend am
Ohrläppchen zu den Tenoristen. Freilich gab es auch Fälle, wo die Jungen
selbst so lange als möglich in einer Stimme zu bleiben suchten. Die beiden
Solofänger im Sopran führten einen besondern, sehr vornehmen Titel: sie
hießen „Natsdiskautisteu," und mit diesem Titel war eine schöne Einnahme ver¬
bunden, sie bekamen jeder allmonatlich vom Rate einen Thaler, gewiß infolge
einer Stiftung, die in alten Zeiten einmal jemand, der in die Jungen verliebt
gewesen war, gemacht hatte. Schon um dieser Einnahme Nullen, noch mehr
aber nur der sonstigen Einnahmen Nullen, die den Solvsüngeru zuflössen, suchten
sie so lange, als es die Stimme irgend hergab, in dieser Stellung zu bleiben.
Welcher Kummer, wen» dann das hohe a nur uoch mit Fistelstimme zu ermög¬
lichen war, dann auch das hö, das k, und endlich gar die Mittellage rauh und
krähig wurde, sodaß man den Natsdiskantisten spöttisch einen Raazdiskantisten
nannte!

Entworfen wurde die neue Ordnung stets vom Kantor in Gemeinschaft
mit den beiden Präfekten, und zwar in der Wohnung des Kantors, wobei es
gewöhnlich ein Fläschchen Wein gab. Die entscheidende Stimme hatten aber
doch die Präfekten, die ja die Einzelnen viel genauer kannten als der Kantor.
Daher wurden auch vorher eine Menge Bitten an die Präfekten gebracht: dn
wollte der und der Vorsänger gern den und den Sopranisten in seine Part
haben, da wollten hier ein paar Busenfreunde, dort ein paar Landsleute zu-
sammen in eine Part gesteckt fein, und was dergleichen mehr war. Wenn dann
die Präfekten mit dem frisch geschriebenen „Chorzettel" ans der Kantorwohnung
kamen — welches Gedränge um die Küchenthür auf der Tablate, wo er nach
altem Herkommen angeschlagen wurde! Da gab es frohe und enttäuschte Gesichter.
Die Einrichtung des Chorzettcls sehe ich noch deutlich vor mir. Links standen in
zwei Kolumnen die beiden Chöre, rechts oben die Amtsparten, darunter die


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[0131] Alnmneninserinnerungen bestand etwa aus vier Sopranisten und zwei oder drei Mister, Tenoristen und Bassisten. An der Spitze jeder „Part" stand ein „Vorsänger," an der Spitze jedes „Chors" ein „Präfekt." Die beiden ersten in jeder Stimme hießen und waren „Solofänger." Diese ganze Einteilung wurde zu Beginn jedes Semesters, zu Ostern und zu Michaeli, von neuem festgestellt. Wer in der Zwischenzeit die Stimme wechselte, aus dem Sopran in den Alt, in den Tenor oder, was auch geschah, in den Baß umschuappte, mußte bis zu Ende des Semesters in der bisherigen Stimme weiterpfeifen. Schonung gab es da nicht. Am Semesterschluß hielt der Kantor eine kurze Stimmprvbe ab; uach deren Ausfall wurde die Neuordnung der Parder vorgenommen, bei der zugleich die Neulinge mit eingereiht wurden. Ein einzigesmal kam es vor, daß der Kantor mitten im Semester einen in eine andre Stimme steckte. Er hatte in der Siugestunde gehört, wie einer im Sopran fortwährend „überschnappte"; da neigte er sein Haupt, horchte herum, bis er ihn herausgefunden hatte, und führte ihn stillschweigend am Ohrläppchen zu den Tenoristen. Freilich gab es auch Fälle, wo die Jungen selbst so lange als möglich in einer Stimme zu bleiben suchten. Die beiden Solofänger im Sopran führten einen besondern, sehr vornehmen Titel: sie hießen „Natsdiskautisteu," und mit diesem Titel war eine schöne Einnahme ver¬ bunden, sie bekamen jeder allmonatlich vom Rate einen Thaler, gewiß infolge einer Stiftung, die in alten Zeiten einmal jemand, der in die Jungen verliebt gewesen war, gemacht hatte. Schon um dieser Einnahme Nullen, noch mehr aber nur der sonstigen Einnahmen Nullen, die den Solvsüngeru zuflössen, suchten sie so lange, als es die Stimme irgend hergab, in dieser Stellung zu bleiben. Welcher Kummer, wen» dann das hohe a nur uoch mit Fistelstimme zu ermög¬ lichen war, dann auch das hö, das k, und endlich gar die Mittellage rauh und krähig wurde, sodaß man den Natsdiskantisten spöttisch einen Raazdiskantisten nannte! Entworfen wurde die neue Ordnung stets vom Kantor in Gemeinschaft mit den beiden Präfekten, und zwar in der Wohnung des Kantors, wobei es gewöhnlich ein Fläschchen Wein gab. Die entscheidende Stimme hatten aber doch die Präfekten, die ja die Einzelnen viel genauer kannten als der Kantor. Daher wurden auch vorher eine Menge Bitten an die Präfekten gebracht: dn wollte der und der Vorsänger gern den und den Sopranisten in seine Part haben, da wollten hier ein paar Busenfreunde, dort ein paar Landsleute zu- sammen in eine Part gesteckt fein, und was dergleichen mehr war. Wenn dann die Präfekten mit dem frisch geschriebenen „Chorzettel" ans der Kantorwohnung kamen — welches Gedränge um die Küchenthür auf der Tablate, wo er nach altem Herkommen angeschlagen wurde! Da gab es frohe und enttäuschte Gesichter. Die Einrichtung des Chorzettcls sehe ich noch deutlich vor mir. Links standen in zwei Kolumnen die beiden Chöre, rechts oben die Amtsparten, darunter die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/131>, abgerufen am 13.05.2024.