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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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zu gestehe", daß wir beschränkt genug sind, die Geschichte des "Milchlamms"
far eine der kühnsten, freilich auch hübschesten Seemannsanekdvten zu halten,
die je erzählt worden sind. Möglich -- was in der Welt ist nicht alles
möglich! Welche verblüffenden Thatsachen hat nicht jeder von uns erlebt, die
um" gar nicht glauben sollte, wenn man sie nicht mit eignen Augen ange¬
sehen hätte, deren Wahrheit wir aber mir mit dem Einsatz unsrer ganzen
Person glaubhaft machen konnten, als wir sie erzählten. Es ist ein Irrtum
Gruses, wenn er die Ursachen des Unglaubens an kühne Geschichten in dein
i^eher und nicht in dem Erzähler sucht. Der Dichter, der nicht bei jedem
seiner ^eher durch das Gewicht seines persönlichen Wertes den Glauben an
kühne Geschichten durchsetzen tan", hat die Pflicht, diese so zu erzählen, so
umsichtig zu motiviren, daß dadurch allein schon der Glaube an die Ge¬
schichten, die er vorbringt, erzeugt werden muß. Es ist eben ein sehr großer
Unterschied, ob mau mündlich als Privatmann oder ob man als Dichter etwas
erzählt; der erstere darf unter Umständen darüber schimpfen, daß seine Zu¬
hörer beschränkt seien; der letztere, wenn er nicht den Kritikern ge¬
radezu Übelwollen nachweisen kann, muß zurückhaltender sein, muß dem künst¬
lerischen Gesetze nachgehen, das den Glauben erzwingen soll, mögen die Kritiker
so mürrisch sein, als sie wollen. Der Hinweis auf die verschiedne (subjektive)
Erfahrung des Dichters und des Lesers ist wohl ohne Belang; stellt sich der
Dichter auf diesen Standpunkt, so will er wohl vou vornherein nur von einer
sehr walllverwandten kleinen Gemeinde verstanden werden, und dann darf er
erst recht nicht über die Kritik der nicht wahlverwandten ^eher klagen. Das
z. B. ist die Stellung vieler Lyriker, aber doch nicht die des Erzählers. Krnse
meint anch offenbar nicht diese subjektive Erfahrung. Wenn aber der Dichter
auf weitere Kreise wirken will, muß er doch auch die Gesinnung, die Erfah¬
rung dieser weitern Kreise in seiner Darstellung berücksichtigen, wie z. B. der
dramatische Dichter gezwungen ist, mit ganz andern Motiven zu arbeiten, als
der sensitive Novellist, weil das Volk, das im Theater zuhört, ganz anders
fühlt als die Dame, die das im Goldschnitt gebundene Buch in ihrem Erker¬
fensterchen liest. Der Erzähler muß sein Publikum, also auch dessen Erfah¬
rung kennen; seine Wirkung hängt von dieser Kenntnis ab; sie wird umso
größer sein, je mehr sich die subjektive Erfahrung des Erzählers deckt mit der
des Durchschnittes seiner Nation zu seiner Zeit. Denn in der Kunst ist zu
verschiednen Zeiten verschiednes glaubhaft. Es ist ein Irrtum, wenn Kruse
glaubt, daß er oder die Kunst überhaupt die Natur nur so abschreibe. Wie
viele Dichter haben das schon geglaubt, und wie himmelweit von einander
verschieden sind diese Abschriften geraten! jeder Mensch sieht ja die Natur und
den Zusammenhang in ihr ganz anders an, jeder liest andres ans ihr heraus.
Darum ist es eine Pflicht der Kunst, nicht so sehr was Krnse naturwahr nennt,
als vielmehr logisch zu sein; sie muß im Bilde logisch sein, sie muß durch


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zu gestehe», daß wir beschränkt genug sind, die Geschichte des „Milchlamms"
far eine der kühnsten, freilich auch hübschesten Seemannsanekdvten zu halten,
die je erzählt worden sind. Möglich — was in der Welt ist nicht alles
möglich! Welche verblüffenden Thatsachen hat nicht jeder von uns erlebt, die
um» gar nicht glauben sollte, wenn man sie nicht mit eignen Augen ange¬
sehen hätte, deren Wahrheit wir aber mir mit dem Einsatz unsrer ganzen
Person glaubhaft machen konnten, als wir sie erzählten. Es ist ein Irrtum
Gruses, wenn er die Ursachen des Unglaubens an kühne Geschichten in dein
i^eher und nicht in dem Erzähler sucht. Der Dichter, der nicht bei jedem
seiner ^eher durch das Gewicht seines persönlichen Wertes den Glauben an
kühne Geschichten durchsetzen tan», hat die Pflicht, diese so zu erzählen, so
umsichtig zu motiviren, daß dadurch allein schon der Glaube an die Ge¬
schichten, die er vorbringt, erzeugt werden muß. Es ist eben ein sehr großer
Unterschied, ob mau mündlich als Privatmann oder ob man als Dichter etwas
erzählt; der erstere darf unter Umständen darüber schimpfen, daß seine Zu¬
hörer beschränkt seien; der letztere, wenn er nicht den Kritikern ge¬
radezu Übelwollen nachweisen kann, muß zurückhaltender sein, muß dem künst¬
lerischen Gesetze nachgehen, das den Glauben erzwingen soll, mögen die Kritiker
so mürrisch sein, als sie wollen. Der Hinweis auf die verschiedne (subjektive)
Erfahrung des Dichters und des Lesers ist wohl ohne Belang; stellt sich der
Dichter auf diesen Standpunkt, so will er wohl vou vornherein nur von einer
sehr walllverwandten kleinen Gemeinde verstanden werden, und dann darf er
erst recht nicht über die Kritik der nicht wahlverwandten ^eher klagen. Das
z. B. ist die Stellung vieler Lyriker, aber doch nicht die des Erzählers. Krnse
meint anch offenbar nicht diese subjektive Erfahrung. Wenn aber der Dichter
auf weitere Kreise wirken will, muß er doch auch die Gesinnung, die Erfah¬
rung dieser weitern Kreise in seiner Darstellung berücksichtigen, wie z. B. der
dramatische Dichter gezwungen ist, mit ganz andern Motiven zu arbeiten, als
der sensitive Novellist, weil das Volk, das im Theater zuhört, ganz anders
fühlt als die Dame, die das im Goldschnitt gebundene Buch in ihrem Erker¬
fensterchen liest. Der Erzähler muß sein Publikum, also auch dessen Erfah¬
rung kennen; seine Wirkung hängt von dieser Kenntnis ab; sie wird umso
größer sein, je mehr sich die subjektive Erfahrung des Erzählers deckt mit der
des Durchschnittes seiner Nation zu seiner Zeit. Denn in der Kunst ist zu
verschiednen Zeiten verschiednes glaubhaft. Es ist ein Irrtum, wenn Kruse
glaubt, daß er oder die Kunst überhaupt die Natur nur so abschreibe. Wie
viele Dichter haben das schon geglaubt, und wie himmelweit von einander
verschieden sind diese Abschriften geraten! jeder Mensch sieht ja die Natur und
den Zusammenhang in ihr ganz anders an, jeder liest andres ans ihr heraus.
Darum ist es eine Pflicht der Kunst, nicht so sehr was Krnse naturwahr nennt,
als vielmehr logisch zu sein; sie muß im Bilde logisch sein, sie muß durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/26>, abgerufen am 13.05.2024.