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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Im Jahre 2000

unsrer Zeit notwendigerweise mit dieser Neuordnung der Dinge verbindet,
unnütz gewesen sind. Denn es wird ihm versichert, daß, "wahrend die Ver¬
pflichtung zum Dienste in irgend einer Form nicht umgangen werden kann,
die Wahl des Verufszweiges, den jeder ergreifen will, frei ist. Gewöhn¬
lich hat jeder junge Mann, ehe er ausgemustert wird, längst den Beruf gefunden,
dem er zu folgen gedenkt, hat bereits sehr viele Kenntnisse über ihn gesammelt
und wartet sehnsüchtig auf den Tag, an den: er eingereiht wird." Es wird
ihm gesagt und gelegentlich auch gezeigt, daß der Arbeiter nicht ein Bürger
ist, weil er arbeitet, sondern daß er arbeitet, weil er ein Bürger ist; daß die
von Staate ausgestellten Kreditkarten die Dienste versehen, die ehemals das
inzwischen abgeschaffte Geld geleistet hatte, daß es sittlicher Grundsatz geworden
ist, keinen Dienst von einem andern anzunehmen, den man ihm im Falle der
Not nicht selbst leisten würde, daß es keine Verbrechen mehr giebt, sondern nur
"Atavismen," die in Hospitäler" behandelt werden, daß die gemeinen Antriebe
zur menschlichen Auszeichnung und höhern Anstrengung durch lauter edle ersetzt
worden sind, daß neben der männlichen Jndnsirienrmee eine weibliche steht,
die jedem weiblichen Wesen eine Mitwirkung an den Aufgaben der Gesellschaft,
damit die volle Unabhängigkeit sichert und Heiraten aus andern Beweggründe"
als ans Liebe vollständig ausschließt. Mr. West hat, ehe er in den' Armen
der schönen Edles, der Urenkelin seiner Braut im neunzehnten Jahrhundert,
glücklich wird, noch eiuen entsetzlichen Traum zu überwinden, worin er sich
Plötzlich in unsre Zeit zurückgeschleudert sieht, und da er die Erkenntnisse und
Anschauungen des dritten Jahrtausends verkündet, ans dem Hause seines eignen
Schwiegervaters hinausgeworfen werden soll. Als er erwacht und sich wirklich
am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und in dem Paradiese findet,
das die Erde inzwischen geworden ist, und während er mit unaussprechlicher
Dankbarkeit über die Größe der Welterlösung und sein Vorrecht, sich in sie zu ver¬
tiefen, nachsinnt, durchdringt den Helden wie ein Messer ein qualvolles Gefühl
von Scham, Neue und Selbstanklage, daß er, ein Mann der frühern Zeit, in
jedem Punkte ebenso gleichgiltig gegen das Elend seiner Brüder, ebenso voll
chnischen Zweifels an einer Besserung, ein ebenso thörichter Verehrer des Chaos
und der alten Nacht gewesen sei, wie irgend einer seiner Mitmenschen. "So weit
mein persönlicher Einfluß reichte, hatte ich ihn dazu angewendet, die Befreiung
der Menschheit, die sich gerade damals vorbereitete, zu hindern, anstatt sie zu
fördern. Was für ein Recht hatte ich, eine Erlösung zu begrüßen, die mich
verdammte, und mich eines Tages zu freuen, über dessen nahen Anbruch ich
mich lustig gemacht hatte?" Aus dieser Qual und Selbstanklage kann ihn nur
die Liebe retten, und wir dürfe" am Schlüsse nicht zweifeln, daß sie das Wunder
vollbringen wird, wie so viele Wunder zuvor.

Die flüchtigste Inhaltsangabe des Bellamyschen Buches läßt die Leser
erraten, daß sein dichterischer Wert sehr gering ist, weil der Verfasser dein


Im Jahre 2000

unsrer Zeit notwendigerweise mit dieser Neuordnung der Dinge verbindet,
unnütz gewesen sind. Denn es wird ihm versichert, daß, „wahrend die Ver¬
pflichtung zum Dienste in irgend einer Form nicht umgangen werden kann,
die Wahl des Verufszweiges, den jeder ergreifen will, frei ist. Gewöhn¬
lich hat jeder junge Mann, ehe er ausgemustert wird, längst den Beruf gefunden,
dem er zu folgen gedenkt, hat bereits sehr viele Kenntnisse über ihn gesammelt
und wartet sehnsüchtig auf den Tag, an den: er eingereiht wird." Es wird
ihm gesagt und gelegentlich auch gezeigt, daß der Arbeiter nicht ein Bürger
ist, weil er arbeitet, sondern daß er arbeitet, weil er ein Bürger ist; daß die
von Staate ausgestellten Kreditkarten die Dienste versehen, die ehemals das
inzwischen abgeschaffte Geld geleistet hatte, daß es sittlicher Grundsatz geworden
ist, keinen Dienst von einem andern anzunehmen, den man ihm im Falle der
Not nicht selbst leisten würde, daß es keine Verbrechen mehr giebt, sondern nur
„Atavismen," die in Hospitäler» behandelt werden, daß die gemeinen Antriebe
zur menschlichen Auszeichnung und höhern Anstrengung durch lauter edle ersetzt
worden sind, daß neben der männlichen Jndnsirienrmee eine weibliche steht,
die jedem weiblichen Wesen eine Mitwirkung an den Aufgaben der Gesellschaft,
damit die volle Unabhängigkeit sichert und Heiraten aus andern Beweggründe»
als ans Liebe vollständig ausschließt. Mr. West hat, ehe er in den' Armen
der schönen Edles, der Urenkelin seiner Braut im neunzehnten Jahrhundert,
glücklich wird, noch eiuen entsetzlichen Traum zu überwinden, worin er sich
Plötzlich in unsre Zeit zurückgeschleudert sieht, und da er die Erkenntnisse und
Anschauungen des dritten Jahrtausends verkündet, ans dem Hause seines eignen
Schwiegervaters hinausgeworfen werden soll. Als er erwacht und sich wirklich
am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und in dem Paradiese findet,
das die Erde inzwischen geworden ist, und während er mit unaussprechlicher
Dankbarkeit über die Größe der Welterlösung und sein Vorrecht, sich in sie zu ver¬
tiefen, nachsinnt, durchdringt den Helden wie ein Messer ein qualvolles Gefühl
von Scham, Neue und Selbstanklage, daß er, ein Mann der frühern Zeit, in
jedem Punkte ebenso gleichgiltig gegen das Elend seiner Brüder, ebenso voll
chnischen Zweifels an einer Besserung, ein ebenso thörichter Verehrer des Chaos
und der alten Nacht gewesen sei, wie irgend einer seiner Mitmenschen. „So weit
mein persönlicher Einfluß reichte, hatte ich ihn dazu angewendet, die Befreiung
der Menschheit, die sich gerade damals vorbereitete, zu hindern, anstatt sie zu
fördern. Was für ein Recht hatte ich, eine Erlösung zu begrüßen, die mich
verdammte, und mich eines Tages zu freuen, über dessen nahen Anbruch ich
mich lustig gemacht hatte?" Aus dieser Qual und Selbstanklage kann ihn nur
die Liebe retten, und wir dürfe» am Schlüsse nicht zweifeln, daß sie das Wunder
vollbringen wird, wie so viele Wunder zuvor.

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[0327] Im Jahre 2000 unsrer Zeit notwendigerweise mit dieser Neuordnung der Dinge verbindet, unnütz gewesen sind. Denn es wird ihm versichert, daß, „wahrend die Ver¬ pflichtung zum Dienste in irgend einer Form nicht umgangen werden kann, die Wahl des Verufszweiges, den jeder ergreifen will, frei ist. Gewöhn¬ lich hat jeder junge Mann, ehe er ausgemustert wird, längst den Beruf gefunden, dem er zu folgen gedenkt, hat bereits sehr viele Kenntnisse über ihn gesammelt und wartet sehnsüchtig auf den Tag, an den: er eingereiht wird." Es wird ihm gesagt und gelegentlich auch gezeigt, daß der Arbeiter nicht ein Bürger ist, weil er arbeitet, sondern daß er arbeitet, weil er ein Bürger ist; daß die von Staate ausgestellten Kreditkarten die Dienste versehen, die ehemals das inzwischen abgeschaffte Geld geleistet hatte, daß es sittlicher Grundsatz geworden ist, keinen Dienst von einem andern anzunehmen, den man ihm im Falle der Not nicht selbst leisten würde, daß es keine Verbrechen mehr giebt, sondern nur „Atavismen," die in Hospitäler» behandelt werden, daß die gemeinen Antriebe zur menschlichen Auszeichnung und höhern Anstrengung durch lauter edle ersetzt worden sind, daß neben der männlichen Jndnsirienrmee eine weibliche steht, die jedem weiblichen Wesen eine Mitwirkung an den Aufgaben der Gesellschaft, damit die volle Unabhängigkeit sichert und Heiraten aus andern Beweggründe» als ans Liebe vollständig ausschließt. Mr. West hat, ehe er in den' Armen der schönen Edles, der Urenkelin seiner Braut im neunzehnten Jahrhundert, glücklich wird, noch eiuen entsetzlichen Traum zu überwinden, worin er sich Plötzlich in unsre Zeit zurückgeschleudert sieht, und da er die Erkenntnisse und Anschauungen des dritten Jahrtausends verkündet, ans dem Hause seines eignen Schwiegervaters hinausgeworfen werden soll. Als er erwacht und sich wirklich am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und in dem Paradiese findet, das die Erde inzwischen geworden ist, und während er mit unaussprechlicher Dankbarkeit über die Größe der Welterlösung und sein Vorrecht, sich in sie zu ver¬ tiefen, nachsinnt, durchdringt den Helden wie ein Messer ein qualvolles Gefühl von Scham, Neue und Selbstanklage, daß er, ein Mann der frühern Zeit, in jedem Punkte ebenso gleichgiltig gegen das Elend seiner Brüder, ebenso voll chnischen Zweifels an einer Besserung, ein ebenso thörichter Verehrer des Chaos und der alten Nacht gewesen sei, wie irgend einer seiner Mitmenschen. „So weit mein persönlicher Einfluß reichte, hatte ich ihn dazu angewendet, die Befreiung der Menschheit, die sich gerade damals vorbereitete, zu hindern, anstatt sie zu fördern. Was für ein Recht hatte ich, eine Erlösung zu begrüßen, die mich verdammte, und mich eines Tages zu freuen, über dessen nahen Anbruch ich mich lustig gemacht hatte?" Aus dieser Qual und Selbstanklage kann ihn nur die Liebe retten, und wir dürfe» am Schlüsse nicht zweifeln, daß sie das Wunder vollbringen wird, wie so viele Wunder zuvor. Die flüchtigste Inhaltsangabe des Bellamyschen Buches läßt die Leser erraten, daß sein dichterischer Wert sehr gering ist, weil der Verfasser dein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/327>, abgerufen am 17.06.2024.