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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die hypnotische Suggestion

die Behauptung übrig, ein Mensch könne durch seinen bloßen Willen in einem
rudern Menschen gewisse Gehirnerregungen hervorrufen, und hierdurch diesen
Menschen zwingen, entweder wie leblos dazuliegen oder gewisse Gedanken zu
erzeugen und gewisse Handlungen auszuführen. Ganz dasselbe haben die
Hexenmeister früherer Zeiten geglaubt und glauben die Wundersüchtigen heute
noch; nur daß der ungebildete Abergläubische die Mittlerrolle nicht kennt, die
dem Nervensystem dabei zufällt. Aber der Gebildete lernt die Bedeutung und
die Funktionen des Gehirns und der Nerven nicht erst durch den Hypnotismus
kennen, sondern kennt das alles schon längst. In wie außer der Hypnose
bewirkt der Zustand der Nervenzellen bald Starrheit der Glieder bald Bewe¬
gung, bald Denken bald Bewußtlosigkeit, bald diese bald jene Richtung der
Gedanken. Das alles wußten wir längst. Wie es aber die Nervenzellen an¬
saugen, diese verschiednen geistigen und körperlichen Zustände und Ereignisse
hervorzubringen, das wissen wir nicht, das erfahren wir auch durch hypno¬
tische Experimente nicht und können wir nicht erfahren, denn wir können in
das Gehirn und in die Nervenstränge der Hypnotischen nicht hineinsehen,
und auch das nachträgliche Seziren ihrer Leichname würde uns nichts nützen,
denn im Leichnam sehen wir doch eben nicht, was im lebendigen hypnotisirten
Menschen früher einmal vorgegangen ist. Wahrscheinlich aber würden wir
den Zusammenhang selbst dann nicht erfahren, wenn wir das Gehirn des
lebenden Menschen durchsichtig machen und seine Teile millionenfach vergrößern
könnten.

Der Freiherr v. Harlunger erwartet von der Anwendung der Suggestion
und von der Beachtung der Suggestivnslehre auch die großartigsten und wohl¬
thätigsten Wirkungen auf dem Gebiete der Heilkunst, der Rechtspflege und der
Erziehung. Wir erlauben uns, diese Erwartungen für völlig unberechtigt zu
erklären.

Daß hypnotische Versuche den Gegenstand krank macheu, wissen wir; daß
die damit verbundene Aufregung vorübergehend die Schmerzen stillen und den
Schein der Gesundheit erzeugen kann, halten wir für möglich; daß aber die
Suggestion wirklich Heilen könne, glauben wir nimmermehr. Könnte sie es,
so wäre damit nicht allein der Naturmechanismus aufgehoben, sondern auch
die sittliche Ordnung zerstört. Jede Krankheit hat ihre Ursache, und die wirk¬
liche Heilung hat die Hebung der Krankheitsursache zur Voraussetzung. Die
Krankheitsursachen kauu man in folgende vier Gruppe" einteilen: 1. Übermaß
oder Mangel um Lebensbedingungen (Nahrung, Luft, Bewegung, Ruhe, Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes); 2. mechanische Verletzung vou außen oder
innen; Z. Vergiftung von außen oder innen; 4. fehlerhafter Bau des
Körpers (z. B. schwindsnchterzeugende Engbrüstigkeit). Die Vererbung rechnen
wir nicht als eine besondre Krankheitsursache, weil angeborne Krankheiten bei
einem der Vorfahren aus einer der aufgezählte!, Ursachen entstanden sind.


Die hypnotische Suggestion

die Behauptung übrig, ein Mensch könne durch seinen bloßen Willen in einem
rudern Menschen gewisse Gehirnerregungen hervorrufen, und hierdurch diesen
Menschen zwingen, entweder wie leblos dazuliegen oder gewisse Gedanken zu
erzeugen und gewisse Handlungen auszuführen. Ganz dasselbe haben die
Hexenmeister früherer Zeiten geglaubt und glauben die Wundersüchtigen heute
noch; nur daß der ungebildete Abergläubische die Mittlerrolle nicht kennt, die
dem Nervensystem dabei zufällt. Aber der Gebildete lernt die Bedeutung und
die Funktionen des Gehirns und der Nerven nicht erst durch den Hypnotismus
kennen, sondern kennt das alles schon längst. In wie außer der Hypnose
bewirkt der Zustand der Nervenzellen bald Starrheit der Glieder bald Bewe¬
gung, bald Denken bald Bewußtlosigkeit, bald diese bald jene Richtung der
Gedanken. Das alles wußten wir längst. Wie es aber die Nervenzellen an¬
saugen, diese verschiednen geistigen und körperlichen Zustände und Ereignisse
hervorzubringen, das wissen wir nicht, das erfahren wir auch durch hypno¬
tische Experimente nicht und können wir nicht erfahren, denn wir können in
das Gehirn und in die Nervenstränge der Hypnotischen nicht hineinsehen,
und auch das nachträgliche Seziren ihrer Leichname würde uns nichts nützen,
denn im Leichnam sehen wir doch eben nicht, was im lebendigen hypnotisirten
Menschen früher einmal vorgegangen ist. Wahrscheinlich aber würden wir
den Zusammenhang selbst dann nicht erfahren, wenn wir das Gehirn des
lebenden Menschen durchsichtig machen und seine Teile millionenfach vergrößern
könnten.

Der Freiherr v. Harlunger erwartet von der Anwendung der Suggestion
und von der Beachtung der Suggestivnslehre auch die großartigsten und wohl¬
thätigsten Wirkungen auf dem Gebiete der Heilkunst, der Rechtspflege und der
Erziehung. Wir erlauben uns, diese Erwartungen für völlig unberechtigt zu
erklären.

Daß hypnotische Versuche den Gegenstand krank macheu, wissen wir; daß
die damit verbundene Aufregung vorübergehend die Schmerzen stillen und den
Schein der Gesundheit erzeugen kann, halten wir für möglich; daß aber die
Suggestion wirklich Heilen könne, glauben wir nimmermehr. Könnte sie es,
so wäre damit nicht allein der Naturmechanismus aufgehoben, sondern auch
die sittliche Ordnung zerstört. Jede Krankheit hat ihre Ursache, und die wirk¬
liche Heilung hat die Hebung der Krankheitsursache zur Voraussetzung. Die
Krankheitsursachen kauu man in folgende vier Gruppe» einteilen: 1. Übermaß
oder Mangel um Lebensbedingungen (Nahrung, Luft, Bewegung, Ruhe, Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes); 2. mechanische Verletzung vou außen oder
innen; Z. Vergiftung von außen oder innen; 4. fehlerhafter Bau des
Körpers (z. B. schwindsnchterzeugende Engbrüstigkeit). Die Vererbung rechnen
wir nicht als eine besondre Krankheitsursache, weil angeborne Krankheiten bei
einem der Vorfahren aus einer der aufgezählte!, Ursachen entstanden sind.


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[0035] Die hypnotische Suggestion die Behauptung übrig, ein Mensch könne durch seinen bloßen Willen in einem rudern Menschen gewisse Gehirnerregungen hervorrufen, und hierdurch diesen Menschen zwingen, entweder wie leblos dazuliegen oder gewisse Gedanken zu erzeugen und gewisse Handlungen auszuführen. Ganz dasselbe haben die Hexenmeister früherer Zeiten geglaubt und glauben die Wundersüchtigen heute noch; nur daß der ungebildete Abergläubische die Mittlerrolle nicht kennt, die dem Nervensystem dabei zufällt. Aber der Gebildete lernt die Bedeutung und die Funktionen des Gehirns und der Nerven nicht erst durch den Hypnotismus kennen, sondern kennt das alles schon längst. In wie außer der Hypnose bewirkt der Zustand der Nervenzellen bald Starrheit der Glieder bald Bewe¬ gung, bald Denken bald Bewußtlosigkeit, bald diese bald jene Richtung der Gedanken. Das alles wußten wir längst. Wie es aber die Nervenzellen an¬ saugen, diese verschiednen geistigen und körperlichen Zustände und Ereignisse hervorzubringen, das wissen wir nicht, das erfahren wir auch durch hypno¬ tische Experimente nicht und können wir nicht erfahren, denn wir können in das Gehirn und in die Nervenstränge der Hypnotischen nicht hineinsehen, und auch das nachträgliche Seziren ihrer Leichname würde uns nichts nützen, denn im Leichnam sehen wir doch eben nicht, was im lebendigen hypnotisirten Menschen früher einmal vorgegangen ist. Wahrscheinlich aber würden wir den Zusammenhang selbst dann nicht erfahren, wenn wir das Gehirn des lebenden Menschen durchsichtig machen und seine Teile millionenfach vergrößern könnten. Der Freiherr v. Harlunger erwartet von der Anwendung der Suggestion und von der Beachtung der Suggestivnslehre auch die großartigsten und wohl¬ thätigsten Wirkungen auf dem Gebiete der Heilkunst, der Rechtspflege und der Erziehung. Wir erlauben uns, diese Erwartungen für völlig unberechtigt zu erklären. Daß hypnotische Versuche den Gegenstand krank macheu, wissen wir; daß die damit verbundene Aufregung vorübergehend die Schmerzen stillen und den Schein der Gesundheit erzeugen kann, halten wir für möglich; daß aber die Suggestion wirklich Heilen könne, glauben wir nimmermehr. Könnte sie es, so wäre damit nicht allein der Naturmechanismus aufgehoben, sondern auch die sittliche Ordnung zerstört. Jede Krankheit hat ihre Ursache, und die wirk¬ liche Heilung hat die Hebung der Krankheitsursache zur Voraussetzung. Die Krankheitsursachen kauu man in folgende vier Gruppe» einteilen: 1. Übermaß oder Mangel um Lebensbedingungen (Nahrung, Luft, Bewegung, Ruhe, Be¬ friedigung des Geschlechtstriebes); 2. mechanische Verletzung vou außen oder innen; Z. Vergiftung von außen oder innen; 4. fehlerhafter Bau des Körpers (z. B. schwindsnchterzeugende Engbrüstigkeit). Die Vererbung rechnen wir nicht als eine besondre Krankheitsursache, weil angeborne Krankheiten bei einem der Vorfahren aus einer der aufgezählte!, Ursachen entstanden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/35>, abgerufen am 19.05.2024.