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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die hypnotische Suggestion

so Wird ihn zwar der Richter nicht für unschuldig, aber "och weit weniger für
krank erklären könne". Der Richter wird ihn verurteilen, wird aber ans solchen
Fällen Anlaß nehmen, ans die Notwendigkeit einer großen Heilkur hinzuweisen,
einer Heilknr, die nicht an dem vollkommen gesunden Verbrecher, sondern an
dem. zu Verbrechen treibenden Gesellschaftsznstande vorzunehmen ist. Eine
andre Gruppe umfaßt die Betrügereien, Unterschlagungen und Diebstühle aus
leichtsinniger Genußsucht und Habsucht. Die dergleichen begehen, sind fast alle
vollkommen gesund. Bei deu meisten ist es ein erster unvorsichtiger Schritt,
der sie in ein Netz verhängnisvoller Nötignuge" verstrickt, sodaß sie von Stufe
zu Stufe sinken. Eine dritte sehr zahlreiche Klasse bilden die Strafthaten, die
gar nichts Unmoralisches a" sich haben, also zu ungünstigen Schlüssen auf die
Gesundheit des Begehenden gar nicht berechtigen, und die lediglich darum, be¬
straft werden, weil sie aus irgend einem Grunde verboten sind. In manchen
Gegenden sind die Polizeiverbvte so zahlreich, daß sie kein Mensch immer im
Gedächtnis haben kann, und daß es bloßer Zufall ist, wenn der Staatsbürger
niemals hiueiutappt und ganz unbescholten durch diese irdische Prüfungszeit
hindurchkoimnt. Daraus entspringen dann wieder die zahlreichen Fälle von
"Widerstand gegen die Staatsgewalt," dnrch den sich namentlich die alten Weiber
auszeichnen, die einzigen Personen in deutschen Landen, die das alte deutsche
Recht mit mannhafter Tapferkeit verteidigen. So blieb z. B. neulich ein
achtzigjähriges Mütterlein, das wegen eines Polizeivergehens verurteilt wurde,
hartnäckig dabei, daß sie keinem Menschen etwas schuldig sei und keinen Pfennig
zahlen werde; als dann der Gerichtsvollzieher sie pfänden wollte, wies sie dem
"verdammten Spitzbuben" mit ihrem Krückstock seine Wege (vor tausend, ja
noch vor sechshundert Jahren wären die Nachbarsleute verpflichtet gewesen,
ihr bei der "Heimsuchung" zu Hilfe zu eile", denn auch der Gcwaltbvte durfte
deu Hausfrieden nicht brechen), und als sie wegen "Widerstandes gegen die
Staatsgewalt" zum zweiteumnle verurteilt wurde, blieb sie dabei: "Ich lasse
mir nichts vormachen, ich zahle keinen Pfennig!" Die ist doch gewiß so ge¬
sund, wie man mit achtzig Jahren nur immer sein kann! Ebenso nichtig aber,
wie die Lehre von dem angebornen Hange zum Verbrechen, ist die von dem
dnrch Suggestion angethanen vorübergehenden Anreiz. In dem Falle Ehraud-
Bompard liegt die Sache ziemlich einfach. Beide Personen sind Abenteurer,
beide liederlich, beide überspannt. Sie brauchten Geld, und sür Leute von
ihrer Vergangenheit konnte der Gedanke eines Verbrechens nichts übermäßig
Schreckliches haben. Sie werden einander gegenseitig "suggerirt," d. h. ihre
Gedanken über einen möglichen unrechtmäßigen Gelderwerb mitgeteilt haben.
Und als es dann zur Ausführung des gemeinsam entworfenen Planes kam,
wird die Dirne, deren heiterm und gemütlichen Temperament eine Grausamkeit
immerhin widerstreben mochte, das Restchen ihres Gemissens mit der durch
ihre Jugenderfahruugen nahegelegten Einbildung betäubt haben, sie handle unter


Die hypnotische Suggestion

so Wird ihn zwar der Richter nicht für unschuldig, aber »och weit weniger für
krank erklären könne». Der Richter wird ihn verurteilen, wird aber ans solchen
Fällen Anlaß nehmen, ans die Notwendigkeit einer großen Heilkur hinzuweisen,
einer Heilknr, die nicht an dem vollkommen gesunden Verbrecher, sondern an
dem. zu Verbrechen treibenden Gesellschaftsznstande vorzunehmen ist. Eine
andre Gruppe umfaßt die Betrügereien, Unterschlagungen und Diebstühle aus
leichtsinniger Genußsucht und Habsucht. Die dergleichen begehen, sind fast alle
vollkommen gesund. Bei deu meisten ist es ein erster unvorsichtiger Schritt,
der sie in ein Netz verhängnisvoller Nötignuge» verstrickt, sodaß sie von Stufe
zu Stufe sinken. Eine dritte sehr zahlreiche Klasse bilden die Strafthaten, die
gar nichts Unmoralisches a» sich haben, also zu ungünstigen Schlüssen auf die
Gesundheit des Begehenden gar nicht berechtigen, und die lediglich darum, be¬
straft werden, weil sie aus irgend einem Grunde verboten sind. In manchen
Gegenden sind die Polizeiverbvte so zahlreich, daß sie kein Mensch immer im
Gedächtnis haben kann, und daß es bloßer Zufall ist, wenn der Staatsbürger
niemals hiueiutappt und ganz unbescholten durch diese irdische Prüfungszeit
hindurchkoimnt. Daraus entspringen dann wieder die zahlreichen Fälle von
„Widerstand gegen die Staatsgewalt," dnrch den sich namentlich die alten Weiber
auszeichnen, die einzigen Personen in deutschen Landen, die das alte deutsche
Recht mit mannhafter Tapferkeit verteidigen. So blieb z. B. neulich ein
achtzigjähriges Mütterlein, das wegen eines Polizeivergehens verurteilt wurde,
hartnäckig dabei, daß sie keinem Menschen etwas schuldig sei und keinen Pfennig
zahlen werde; als dann der Gerichtsvollzieher sie pfänden wollte, wies sie dem
„verdammten Spitzbuben" mit ihrem Krückstock seine Wege (vor tausend, ja
noch vor sechshundert Jahren wären die Nachbarsleute verpflichtet gewesen,
ihr bei der „Heimsuchung" zu Hilfe zu eile», denn auch der Gcwaltbvte durfte
deu Hausfrieden nicht brechen), und als sie wegen „Widerstandes gegen die
Staatsgewalt" zum zweiteumnle verurteilt wurde, blieb sie dabei: „Ich lasse
mir nichts vormachen, ich zahle keinen Pfennig!" Die ist doch gewiß so ge¬
sund, wie man mit achtzig Jahren nur immer sein kann! Ebenso nichtig aber,
wie die Lehre von dem angebornen Hange zum Verbrechen, ist die von dem
dnrch Suggestion angethanen vorübergehenden Anreiz. In dem Falle Ehraud-
Bompard liegt die Sache ziemlich einfach. Beide Personen sind Abenteurer,
beide liederlich, beide überspannt. Sie brauchten Geld, und sür Leute von
ihrer Vergangenheit konnte der Gedanke eines Verbrechens nichts übermäßig
Schreckliches haben. Sie werden einander gegenseitig „suggerirt," d. h. ihre
Gedanken über einen möglichen unrechtmäßigen Gelderwerb mitgeteilt haben.
Und als es dann zur Ausführung des gemeinsam entworfenen Planes kam,
wird die Dirne, deren heiterm und gemütlichen Temperament eine Grausamkeit
immerhin widerstreben mochte, das Restchen ihres Gemissens mit der durch
ihre Jugenderfahruugen nahegelegten Einbildung betäubt haben, sie handle unter


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[0038] Die hypnotische Suggestion so Wird ihn zwar der Richter nicht für unschuldig, aber »och weit weniger für krank erklären könne». Der Richter wird ihn verurteilen, wird aber ans solchen Fällen Anlaß nehmen, ans die Notwendigkeit einer großen Heilkur hinzuweisen, einer Heilknr, die nicht an dem vollkommen gesunden Verbrecher, sondern an dem. zu Verbrechen treibenden Gesellschaftsznstande vorzunehmen ist. Eine andre Gruppe umfaßt die Betrügereien, Unterschlagungen und Diebstühle aus leichtsinniger Genußsucht und Habsucht. Die dergleichen begehen, sind fast alle vollkommen gesund. Bei deu meisten ist es ein erster unvorsichtiger Schritt, der sie in ein Netz verhängnisvoller Nötignuge» verstrickt, sodaß sie von Stufe zu Stufe sinken. Eine dritte sehr zahlreiche Klasse bilden die Strafthaten, die gar nichts Unmoralisches a» sich haben, also zu ungünstigen Schlüssen auf die Gesundheit des Begehenden gar nicht berechtigen, und die lediglich darum, be¬ straft werden, weil sie aus irgend einem Grunde verboten sind. In manchen Gegenden sind die Polizeiverbvte so zahlreich, daß sie kein Mensch immer im Gedächtnis haben kann, und daß es bloßer Zufall ist, wenn der Staatsbürger niemals hiueiutappt und ganz unbescholten durch diese irdische Prüfungszeit hindurchkoimnt. Daraus entspringen dann wieder die zahlreichen Fälle von „Widerstand gegen die Staatsgewalt," dnrch den sich namentlich die alten Weiber auszeichnen, die einzigen Personen in deutschen Landen, die das alte deutsche Recht mit mannhafter Tapferkeit verteidigen. So blieb z. B. neulich ein achtzigjähriges Mütterlein, das wegen eines Polizeivergehens verurteilt wurde, hartnäckig dabei, daß sie keinem Menschen etwas schuldig sei und keinen Pfennig zahlen werde; als dann der Gerichtsvollzieher sie pfänden wollte, wies sie dem „verdammten Spitzbuben" mit ihrem Krückstock seine Wege (vor tausend, ja noch vor sechshundert Jahren wären die Nachbarsleute verpflichtet gewesen, ihr bei der „Heimsuchung" zu Hilfe zu eile», denn auch der Gcwaltbvte durfte deu Hausfrieden nicht brechen), und als sie wegen „Widerstandes gegen die Staatsgewalt" zum zweiteumnle verurteilt wurde, blieb sie dabei: „Ich lasse mir nichts vormachen, ich zahle keinen Pfennig!" Die ist doch gewiß so ge¬ sund, wie man mit achtzig Jahren nur immer sein kann! Ebenso nichtig aber, wie die Lehre von dem angebornen Hange zum Verbrechen, ist die von dem dnrch Suggestion angethanen vorübergehenden Anreiz. In dem Falle Ehraud- Bompard liegt die Sache ziemlich einfach. Beide Personen sind Abenteurer, beide liederlich, beide überspannt. Sie brauchten Geld, und sür Leute von ihrer Vergangenheit konnte der Gedanke eines Verbrechens nichts übermäßig Schreckliches haben. Sie werden einander gegenseitig „suggerirt," d. h. ihre Gedanken über einen möglichen unrechtmäßigen Gelderwerb mitgeteilt haben. Und als es dann zur Ausführung des gemeinsam entworfenen Planes kam, wird die Dirne, deren heiterm und gemütlichen Temperament eine Grausamkeit immerhin widerstreben mochte, das Restchen ihres Gemissens mit der durch ihre Jugenderfahruugen nahegelegten Einbildung betäubt haben, sie handle unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/38>, abgerufen am 26.05.2024.