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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Ein Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren

heute vou Goethes Geburtsstadt über Hennen durch das Kiuzig-
aufwärts "ach Norden fährt, wo er die alte Hohenslaufenstadt
IM^^A^AGelnhcmsen mit ihrer schone", vielfach Minute" Kirche und die Neste
I^g^DWH"der alten Kaiserpfalz besuche" kann, sieht das anfangs so breite und
mit lachenden Wiesengriinden nnsgeflillte That der .Mnzig immer
W^MssM?enger werden. Von Osten her dri1in.it sich der Speisart immer
gewaltiger und mächtiger heran, im Westen erhebt sich der Vogelsberg, Wohl mehr
allmählich, aber um so gründlicher. Die Eisenbahn muß das immer enger werdende
Flußufer verlasse" und an den Abhängen ihren Weg weiter zur Wasserscheide
suchen.

Es ist ein Weg, der manche Erinnerung an große Zeiten und große Menschen
weckt. Dort kommt auf einmal bei einer Thalöffuuug auf einsamem. Bergkegel die
gewaltige Ronneburg in unsern Gesichtskreis, jetzt in Trümmer verfallend und
mit dürftigem Rasen und Geröll umgeben, einst aber der Sitz eines mächtigen,
noch heute in' Ehren stehenden Herrengeschlechts, dann eine Art Zion für eine
arme Indenkvlonie und wieder ein Zion andrer Art für die "sonderbaren
Schwärmer" des Grafen Zinzendorf, die Herrnhuter. Hier stand die alte Steckel¬
burg , wo Ulrich von Hütten, der Vorkämpfer der Reformatoren, das Licht der
Welt erblickte, der er auch ein Licht werden sollte. Dort hat sich 1813 "auf der
großen Retirade," von der noch manche Dorfchrvuik Erzählt und von der ich in
meinen Kiudesjcchren uoch manche Einzelheiten gehört habe, Napoleon mit den
Resten seiner geschlagenen Armee nach dem Rhein und über den Rhein ge¬
rettet. Sein Herz schlug ihm wieder fröhlicher, als er den Engpaß nicht gesperrt
fand und er erst bei Hanau das Heer Wredes im Wege fand. Von hier aus hat
186L der General Vogel vou Falckeustein mit der Maiuarmee seinen Marsch
durch den Spessart angetreten, der mit Recht in der neuern Kriegsgeschichte als
eine That großen Mutes und genialer Taktik gepriesen wird.

Wo Mahbachs Herrschaft aufhört, da fängt Stephan an zu beglücken. Wir
verlassen die Bahn an dein hochgelegenen Bahnhof bei Steinau, wir vertrauen uns
einer der sehr wohlthätigen, aber nicht immer sehr reinlichen Postkutschen an, deren
gelbe Farbe auf den abgelegenen Straßen unsers Vaterlandes mit nicht weniger
Freude und Stolz erblickt wird, als der Rauch der Lokomotive nu den Eisenbahnen.
Ist doch die Post die einzige Verbindung zwischen der weltverlorenen Gebirgswelt
und dem lärmerfüllten Leben der Stadt. Sie bringt den Bauern die "Herren,"
die Juden, die Schuapsreisenden, die Konfektionäre, die visitirenden Beamten und
den Gerichtsvollzieher, unsern modernen Würgengel. Ans der Post zu fahren gilt
dem sparsamen Bauern für eine That großer Selbstüberhebung und frevelhaften




Ein Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren

heute vou Goethes Geburtsstadt über Hennen durch das Kiuzig-
aufwärts „ach Norden fährt, wo er die alte Hohenslaufenstadt
IM^^A^AGelnhcmsen mit ihrer schone», vielfach Minute» Kirche und die Neste
I^g^DWH«der alten Kaiserpfalz besuche» kann, sieht das anfangs so breite und
mit lachenden Wiesengriinden nnsgeflillte That der .Mnzig immer
W^MssM?enger werden. Von Osten her dri1in.it sich der Speisart immer
gewaltiger und mächtiger heran, im Westen erhebt sich der Vogelsberg, Wohl mehr
allmählich, aber um so gründlicher. Die Eisenbahn muß das immer enger werdende
Flußufer verlasse» und an den Abhängen ihren Weg weiter zur Wasserscheide
suchen.

Es ist ein Weg, der manche Erinnerung an große Zeiten und große Menschen
weckt. Dort kommt auf einmal bei einer Thalöffuuug auf einsamem. Bergkegel die
gewaltige Ronneburg in unsern Gesichtskreis, jetzt in Trümmer verfallend und
mit dürftigem Rasen und Geröll umgeben, einst aber der Sitz eines mächtigen,
noch heute in' Ehren stehenden Herrengeschlechts, dann eine Art Zion für eine
arme Indenkvlonie und wieder ein Zion andrer Art für die „sonderbaren
Schwärmer" des Grafen Zinzendorf, die Herrnhuter. Hier stand die alte Steckel¬
burg , wo Ulrich von Hütten, der Vorkämpfer der Reformatoren, das Licht der
Welt erblickte, der er auch ein Licht werden sollte. Dort hat sich 1813 „auf der
großen Retirade," von der noch manche Dorfchrvuik Erzählt und von der ich in
meinen Kiudesjcchren uoch manche Einzelheiten gehört habe, Napoleon mit den
Resten seiner geschlagenen Armee nach dem Rhein und über den Rhein ge¬
rettet. Sein Herz schlug ihm wieder fröhlicher, als er den Engpaß nicht gesperrt
fand und er erst bei Hanau das Heer Wredes im Wege fand. Von hier aus hat
186L der General Vogel vou Falckeustein mit der Maiuarmee seinen Marsch
durch den Spessart angetreten, der mit Recht in der neuern Kriegsgeschichte als
eine That großen Mutes und genialer Taktik gepriesen wird.

Wo Mahbachs Herrschaft aufhört, da fängt Stephan an zu beglücken. Wir
verlassen die Bahn an dein hochgelegenen Bahnhof bei Steinau, wir vertrauen uns
einer der sehr wohlthätigen, aber nicht immer sehr reinlichen Postkutschen an, deren
gelbe Farbe auf den abgelegenen Straßen unsers Vaterlandes mit nicht weniger
Freude und Stolz erblickt wird, als der Rauch der Lokomotive nu den Eisenbahnen.
Ist doch die Post die einzige Verbindung zwischen der weltverlorenen Gebirgswelt
und dem lärmerfüllten Leben der Stadt. Sie bringt den Bauern die „Herren,"
die Juden, die Schuapsreisenden, die Konfektionäre, die visitirenden Beamten und
den Gerichtsvollzieher, unsern modernen Würgengel. Ans der Post zu fahren gilt
dem sparsamen Bauern für eine That großer Selbstüberhebung und frevelhaften


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[0474] [Abbildung] Ein Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren heute vou Goethes Geburtsstadt über Hennen durch das Kiuzig- aufwärts „ach Norden fährt, wo er die alte Hohenslaufenstadt IM^^A^AGelnhcmsen mit ihrer schone», vielfach Minute» Kirche und die Neste I^g^DWH«der alten Kaiserpfalz besuche» kann, sieht das anfangs so breite und mit lachenden Wiesengriinden nnsgeflillte That der .Mnzig immer W^MssM?enger werden. Von Osten her dri1in.it sich der Speisart immer gewaltiger und mächtiger heran, im Westen erhebt sich der Vogelsberg, Wohl mehr allmählich, aber um so gründlicher. Die Eisenbahn muß das immer enger werdende Flußufer verlasse» und an den Abhängen ihren Weg weiter zur Wasserscheide suchen. Es ist ein Weg, der manche Erinnerung an große Zeiten und große Menschen weckt. Dort kommt auf einmal bei einer Thalöffuuug auf einsamem. Bergkegel die gewaltige Ronneburg in unsern Gesichtskreis, jetzt in Trümmer verfallend und mit dürftigem Rasen und Geröll umgeben, einst aber der Sitz eines mächtigen, noch heute in' Ehren stehenden Herrengeschlechts, dann eine Art Zion für eine arme Indenkvlonie und wieder ein Zion andrer Art für die „sonderbaren Schwärmer" des Grafen Zinzendorf, die Herrnhuter. Hier stand die alte Steckel¬ burg , wo Ulrich von Hütten, der Vorkämpfer der Reformatoren, das Licht der Welt erblickte, der er auch ein Licht werden sollte. Dort hat sich 1813 „auf der großen Retirade," von der noch manche Dorfchrvuik Erzählt und von der ich in meinen Kiudesjcchren uoch manche Einzelheiten gehört habe, Napoleon mit den Resten seiner geschlagenen Armee nach dem Rhein und über den Rhein ge¬ rettet. Sein Herz schlug ihm wieder fröhlicher, als er den Engpaß nicht gesperrt fand und er erst bei Hanau das Heer Wredes im Wege fand. Von hier aus hat 186L der General Vogel vou Falckeustein mit der Maiuarmee seinen Marsch durch den Spessart angetreten, der mit Recht in der neuern Kriegsgeschichte als eine That großen Mutes und genialer Taktik gepriesen wird. Wo Mahbachs Herrschaft aufhört, da fängt Stephan an zu beglücken. Wir verlassen die Bahn an dein hochgelegenen Bahnhof bei Steinau, wir vertrauen uns einer der sehr wohlthätigen, aber nicht immer sehr reinlichen Postkutschen an, deren gelbe Farbe auf den abgelegenen Straßen unsers Vaterlandes mit nicht weniger Freude und Stolz erblickt wird, als der Rauch der Lokomotive nu den Eisenbahnen. Ist doch die Post die einzige Verbindung zwischen der weltverlorenen Gebirgswelt und dem lärmerfüllten Leben der Stadt. Sie bringt den Bauern die „Herren," die Juden, die Schuapsreisenden, die Konfektionäre, die visitirenden Beamten und den Gerichtsvollzieher, unsern modernen Würgengel. Ans der Post zu fahren gilt dem sparsamen Bauern für eine That großer Selbstüberhebung und frevelhaften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/474>, abgerufen am 13.05.2024.