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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Aunst in England

gewellten Terrain an strahlenden Frühlingstagen. Das Gras glänzt, die
Sonne leuchtet, es ist eine weite Fernsicht. Hinten weiden wohl Kühe oder
Schafe, vorn ist ein großes Wasser oder ein niedriges Gebüsch, alles einfach,
nur von Luft umflossen. Darin liegt die Poesie. Es sind Landschaften von
einer so entzückenden Zartheit, von einem so keuschen Duft, daß man fast
glaubt, die Künstler seien Knaben gewesen, denen zum erstenmale die reine
und kindliche Liebe zur Natur aufgegangen sei. In diesen Schotten haben die
großen Meister von Barbison ihre wahlverwandten Nachfolger gefunden. Zu
den Werken der heutigen Franzosen verhalten sich die ihrigen ähnlich wie etwa
die jugendliche Kraft der neuen russischen Romane zu der ausgeschriebenen
Routine der französischen.

Und noch eins. In einer Zeit, wo in Frankreich der Geist, der einst
Jean FrcmeMs Millet beseelte, schon wieder verflogen und nur die Schablone
geblieben ist, wo man dort das Äußerliche des neuen Prinzips genau festgestellt
hat und nun nach diesem Rezept tausende von Bildern fabrizirt, führen einzelne
dieser Schotten ihre schwärmerisch bewegte Subjektivität auf den Schauplatz.
Während die Naturalisten ringsum ihren höchsten Ehrgeiz in der UnPersönlich¬
keit, im photographischen Schaffen sehen, wagen es Melville und Henry geradezu
als Farbendichter aufzutreten, in ihrer Malerei nicht vom Natureindruck, son¬
dern vom Klang, vom Rhythmus der Formen und Farbenmassen auszugehen.
Und die Farbenakkorde, die sie anschlagen, sind schwellend, voll, tief und rund
wie Orgeltöne, sodaß sie schon auf die Seele wirken, ehe man den Gegenstand
des Bildes erkannt hat. Man wird an die Stelle bei Lionardo da Vinci er¬
innert, wo er den jungen Malern sagt, daß sich in den Wolken und in ver¬
wittertem Mauerwerk gar merkwürdige Gestaltungen und Fabelwesen entdecken
ließen -- im Prinzip des Schaffens ist ihnen von unsern Malern nur Böcklin
verwandt. Es ist eine musikalische Malerei, die sich freilich nur genie-ßer,
nicht nachahmen läßt.




Die Aunst in England

gewellten Terrain an strahlenden Frühlingstagen. Das Gras glänzt, die
Sonne leuchtet, es ist eine weite Fernsicht. Hinten weiden wohl Kühe oder
Schafe, vorn ist ein großes Wasser oder ein niedriges Gebüsch, alles einfach,
nur von Luft umflossen. Darin liegt die Poesie. Es sind Landschaften von
einer so entzückenden Zartheit, von einem so keuschen Duft, daß man fast
glaubt, die Künstler seien Knaben gewesen, denen zum erstenmale die reine
und kindliche Liebe zur Natur aufgegangen sei. In diesen Schotten haben die
großen Meister von Barbison ihre wahlverwandten Nachfolger gefunden. Zu
den Werken der heutigen Franzosen verhalten sich die ihrigen ähnlich wie etwa
die jugendliche Kraft der neuen russischen Romane zu der ausgeschriebenen
Routine der französischen.

Und noch eins. In einer Zeit, wo in Frankreich der Geist, der einst
Jean FrcmeMs Millet beseelte, schon wieder verflogen und nur die Schablone
geblieben ist, wo man dort das Äußerliche des neuen Prinzips genau festgestellt
hat und nun nach diesem Rezept tausende von Bildern fabrizirt, führen einzelne
dieser Schotten ihre schwärmerisch bewegte Subjektivität auf den Schauplatz.
Während die Naturalisten ringsum ihren höchsten Ehrgeiz in der UnPersönlich¬
keit, im photographischen Schaffen sehen, wagen es Melville und Henry geradezu
als Farbendichter aufzutreten, in ihrer Malerei nicht vom Natureindruck, son¬
dern vom Klang, vom Rhythmus der Formen und Farbenmassen auszugehen.
Und die Farbenakkorde, die sie anschlagen, sind schwellend, voll, tief und rund
wie Orgeltöne, sodaß sie schon auf die Seele wirken, ehe man den Gegenstand
des Bildes erkannt hat. Man wird an die Stelle bei Lionardo da Vinci er¬
innert, wo er den jungen Malern sagt, daß sich in den Wolken und in ver¬
wittertem Mauerwerk gar merkwürdige Gestaltungen und Fabelwesen entdecken
ließen — im Prinzip des Schaffens ist ihnen von unsern Malern nur Böcklin
verwandt. Es ist eine musikalische Malerei, die sich freilich nur genie-ßer,
nicht nachahmen läßt.




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[0568] Die Aunst in England gewellten Terrain an strahlenden Frühlingstagen. Das Gras glänzt, die Sonne leuchtet, es ist eine weite Fernsicht. Hinten weiden wohl Kühe oder Schafe, vorn ist ein großes Wasser oder ein niedriges Gebüsch, alles einfach, nur von Luft umflossen. Darin liegt die Poesie. Es sind Landschaften von einer so entzückenden Zartheit, von einem so keuschen Duft, daß man fast glaubt, die Künstler seien Knaben gewesen, denen zum erstenmale die reine und kindliche Liebe zur Natur aufgegangen sei. In diesen Schotten haben die großen Meister von Barbison ihre wahlverwandten Nachfolger gefunden. Zu den Werken der heutigen Franzosen verhalten sich die ihrigen ähnlich wie etwa die jugendliche Kraft der neuen russischen Romane zu der ausgeschriebenen Routine der französischen. Und noch eins. In einer Zeit, wo in Frankreich der Geist, der einst Jean FrcmeMs Millet beseelte, schon wieder verflogen und nur die Schablone geblieben ist, wo man dort das Äußerliche des neuen Prinzips genau festgestellt hat und nun nach diesem Rezept tausende von Bildern fabrizirt, führen einzelne dieser Schotten ihre schwärmerisch bewegte Subjektivität auf den Schauplatz. Während die Naturalisten ringsum ihren höchsten Ehrgeiz in der UnPersönlich¬ keit, im photographischen Schaffen sehen, wagen es Melville und Henry geradezu als Farbendichter aufzutreten, in ihrer Malerei nicht vom Natureindruck, son¬ dern vom Klang, vom Rhythmus der Formen und Farbenmassen auszugehen. Und die Farbenakkorde, die sie anschlagen, sind schwellend, voll, tief und rund wie Orgeltöne, sodaß sie schon auf die Seele wirken, ehe man den Gegenstand des Bildes erkannt hat. Man wird an die Stelle bei Lionardo da Vinci er¬ innert, wo er den jungen Malern sagt, daß sich in den Wolken und in ver¬ wittertem Mauerwerk gar merkwürdige Gestaltungen und Fabelwesen entdecken ließen — im Prinzip des Schaffens ist ihnen von unsern Malern nur Böcklin verwandt. Es ist eine musikalische Malerei, die sich freilich nur genie-ßer, nicht nachahmen läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/568>, abgerufen am 13.05.2024.