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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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und so entstand die Chartistenbewegung, die nach des Verfassers Ansicht durch
ihre Ausdehnung über die ganze Arbeiterbevölkerung und die UnVersöhnlichkeit
des sie beseelenden Hasses weit gefährlicher war als die heutige sozialdemo-
kratische auf dem Festlande. Die Staatsmänner standen diesem Unheil ratlos
gegenüber. Aber ehe die soziale Revolution ausbrach, die mau um 1840 all¬
gemein erwartete, äußerte der mittlerweile in den nicht politischen Kreisen ein¬
getretene Umschwung der Geister seine wohlthätige Wirkung und lenkte die
soziale Bewegung in ein friedliches Bett. Als den Mittelpunkt dieser Er¬
neuerung des englischen Volkes von innen heraus bezeichnet der Verfasser
Thomas Carlyle nud widmet daher das erste Buch ausschließlich der Dar¬
stellung des Gedankenbnues dieses großen Denkers.

Aus dem puritanischen Familienkreise, in dem er aufgewachsen war, nahm
Carlyle jenen herben Ernst und jenen gläubigen Zug mit ins Leben, der es
ihm unmöglich machte, in der herrschenden materialistischen Philosophie und
in einem selbstsüchtigen Genußleben Befriedigung zu finden. Er verfiel an¬
fänglich der Skepsis und dein Pessimismus. Eine Stelle aus Wilhelm Meister
our es, die ihm die Hoffnung wiedergab und seine "Bekehrung" beschleunigte.
"Nicht allen Menschen, sagt Jarno zu Wilhelm, ist es eigentlich um ihre
Bildung zu thun; viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden,
Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art vou Glückseligkeit. Alle diese, die
nicht ans ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm
Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht." Carlyle folgerte aus
diesen Worten Goethes, daß der Mensch mich ohne das fertig werden könne
und müsse, was man gewöhnlich Glück nennt. Die Aufgabe des Menschen
sei, für seine Person zu entsagen und für andre zu arbeiten. Die Kraft der
Entsagung aber, fand Carlyle weiter, könne nnr aus dem Glauben an ein
Jenseits geschöpft werden; darum seien alle gläubigen Zeitalter positiv und
bauten auf, während die ungläubigen nnr zu zerstören verstünden. Im da¬
maligen England vermochte Carlyle nichts als Auflösung und Zerstörung zu
sehen. Insbesondre, meinte er, sei diesem Geschlechte der Begriff der Arbeit
gänzlich abhanden gekommen. Eine Arbeit, die als Ware verkauft, die nur
im Hinblick auf den Geldlohn verrichtet werde, verdiene gar nicht den Namen
Arbeit; zur Arbeit werde eine Beschäftigung erst durch ihre Beziehung aufs
Gemeinwohl. Da diese Beziehung jetzt (d. h. vor fünfzig Jahren und in
England) ganz allgemein fehle, so werde nur noch Scheinarbeit verrichtet;
dnrch die Reklame erwecke jeder im andern den Irrtum, als sei die Arbeit
gethan, während sie umgethan und die ihrer bedürftige Gesellschaft unbefriedigt
bleibt. Das gelte besonders auch von der fürs Gemeinwesen wichtigsten Arbeit
des Regierens. Das unwissende, hilflose Volk habe ein Recht darauf, belehrt
und geleitet zu werden, und dieses Recht werde ihm vorenthalten, indem die
zum Regieren berufenen höhern Stände ihre Pflicht versäumten. Fast als


und so entstand die Chartistenbewegung, die nach des Verfassers Ansicht durch
ihre Ausdehnung über die ganze Arbeiterbevölkerung und die UnVersöhnlichkeit
des sie beseelenden Hasses weit gefährlicher war als die heutige sozialdemo-
kratische auf dem Festlande. Die Staatsmänner standen diesem Unheil ratlos
gegenüber. Aber ehe die soziale Revolution ausbrach, die mau um 1840 all¬
gemein erwartete, äußerte der mittlerweile in den nicht politischen Kreisen ein¬
getretene Umschwung der Geister seine wohlthätige Wirkung und lenkte die
soziale Bewegung in ein friedliches Bett. Als den Mittelpunkt dieser Er¬
neuerung des englischen Volkes von innen heraus bezeichnet der Verfasser
Thomas Carlyle nud widmet daher das erste Buch ausschließlich der Dar¬
stellung des Gedankenbnues dieses großen Denkers.

Aus dem puritanischen Familienkreise, in dem er aufgewachsen war, nahm
Carlyle jenen herben Ernst und jenen gläubigen Zug mit ins Leben, der es
ihm unmöglich machte, in der herrschenden materialistischen Philosophie und
in einem selbstsüchtigen Genußleben Befriedigung zu finden. Er verfiel an¬
fänglich der Skepsis und dein Pessimismus. Eine Stelle aus Wilhelm Meister
our es, die ihm die Hoffnung wiedergab und seine „Bekehrung" beschleunigte.
„Nicht allen Menschen, sagt Jarno zu Wilhelm, ist es eigentlich um ihre
Bildung zu thun; viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden,
Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art vou Glückseligkeit. Alle diese, die
nicht ans ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm
Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht." Carlyle folgerte aus
diesen Worten Goethes, daß der Mensch mich ohne das fertig werden könne
und müsse, was man gewöhnlich Glück nennt. Die Aufgabe des Menschen
sei, für seine Person zu entsagen und für andre zu arbeiten. Die Kraft der
Entsagung aber, fand Carlyle weiter, könne nnr aus dem Glauben an ein
Jenseits geschöpft werden; darum seien alle gläubigen Zeitalter positiv und
bauten auf, während die ungläubigen nnr zu zerstören verstünden. Im da¬
maligen England vermochte Carlyle nichts als Auflösung und Zerstörung zu
sehen. Insbesondre, meinte er, sei diesem Geschlechte der Begriff der Arbeit
gänzlich abhanden gekommen. Eine Arbeit, die als Ware verkauft, die nur
im Hinblick auf den Geldlohn verrichtet werde, verdiene gar nicht den Namen
Arbeit; zur Arbeit werde eine Beschäftigung erst durch ihre Beziehung aufs
Gemeinwohl. Da diese Beziehung jetzt (d. h. vor fünfzig Jahren und in
England) ganz allgemein fehle, so werde nur noch Scheinarbeit verrichtet;
dnrch die Reklame erwecke jeder im andern den Irrtum, als sei die Arbeit
gethan, während sie umgethan und die ihrer bedürftige Gesellschaft unbefriedigt
bleibt. Das gelte besonders auch von der fürs Gemeinwesen wichtigsten Arbeit
des Regierens. Das unwissende, hilflose Volk habe ein Recht darauf, belehrt
und geleitet zu werden, und dieses Recht werde ihm vorenthalten, indem die
zum Regieren berufenen höhern Stände ihre Pflicht versäumten. Fast als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/586>, abgerufen am 14.05.2024.