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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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über ihn läutern und Wohl auch einigen. Dann wird man seine Vielseitigkeit an¬
erkennen, den "katechetischen" Zug vieler seiner Schriften als einen unter vielen
andern Charakterzügen sehen; dann wird man seine Gestaltungskraft bewundern, die
dem geistvollen und aus dem Gemüte einer reinen Natur quillcnden Gehalt die
Wage hält; dann wird man den wirklich berufenen Volksdichter in ihm sehen, der
nicht bloß sür geistreich sein wollende Rezensenten und Verstandesmenschen schrieb;
man wird auch zu einer klaren Anschauung vou Auzeugrubers rein poetischem Ver¬
hältnis zum Dorfe und zum Bauerntum gelangen, das wesentlich verschieden von
dem andrer Dorfgcschichteudichter ist; man wird endlich sehen, wie ernst er es mit
seinem Dichterberufe nahm, und daß er in der That Werke von dauerndem Werte
geschaffen hat. So lange es einen Gegensatz zwischen der gereinigten Religion des
modernen Menschen und dem Aberglauben des katholischen Südens mit seinem
Kultus der 33 000 Heiligen geben wird, so lange wird Anzengrubers Humor ver¬
standen werden; so lange es einen Gegensatz zwischen der Äberbildung der Stadt
und der urwüchsigen Einfalt und Wahrhaftigkeit des Dorfbewohners geben wird,
so lange wird Anzengrubers Poesie berechtigt dastehen; so lange die Menschennatur
sich uicht ändert, so lange werden der "Sternsteinhof" und der "Meineidbauer"
und die "Kreuzelschreiber" als wahre Abbilder derselben anerkannt bleiben.

Dies in aller Kürze zur Kennzeichnung unsrer Stellung zu dem größten
österreichischen Dramatiker seit Grillparzer und Raimund. Den Inhalt der ein¬
zelnen Bände, die bisher vorliegen, haben die Grenzboten der letzten Jahrgänge
jedesmal uach ihrem ersten Erscheinen ausführlich besprochen: den "Sternsteinhof,"
deu "Schandfleck" und die "Dorsgänge," deren größerer Teil zuerst in dem Buche
"Sonnenschein und Wolkenschatten" erschienen ist. Im vorliegenden dritten Bande
der Gesamtausgabe sind alle kleinern Erzählungen chronologisch geordnet, um nach
dem eignen Wunsche des Dichters nachdenklicher" Lesern zwanglos ein Bild seiner
künstlerischen Entwicklung zu bieten. Eingeleitet wird diese Gesamtausgabe durch
einen maß- und gehaltvollen Lebensabriß aus der Feder seines langjährigen
Freundes Anton Bettelheim. Maßvoll insbesondre dort, wo es Gelegenheit ge¬
geben hätte, anzuklagen! Anzuklagen die Haltung der Presse und der Bühnen
Wiens gegeuüber dem einheimischen Dichter, dessen endgiltige Anerkennung eigentlich
die Berliner durchgesetzt haben. Es erging ihm wie es Gottfried Keller erging,
dessen Ruhm auch erst von außen hat unes Zürich hineingetragen werden müssen.

Wir werden wohl noch nach Abschluß dieser Gesamtausgabe Gelegenheit finden,
auf sie zurückzukommen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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über ihn läutern und Wohl auch einigen. Dann wird man seine Vielseitigkeit an¬
erkennen, den „katechetischen" Zug vieler seiner Schriften als einen unter vielen
andern Charakterzügen sehen; dann wird man seine Gestaltungskraft bewundern, die
dem geistvollen und aus dem Gemüte einer reinen Natur quillcnden Gehalt die
Wage hält; dann wird man den wirklich berufenen Volksdichter in ihm sehen, der
nicht bloß sür geistreich sein wollende Rezensenten und Verstandesmenschen schrieb;
man wird auch zu einer klaren Anschauung vou Auzeugrubers rein poetischem Ver¬
hältnis zum Dorfe und zum Bauerntum gelangen, das wesentlich verschieden von
dem andrer Dorfgcschichteudichter ist; man wird endlich sehen, wie ernst er es mit
seinem Dichterberufe nahm, und daß er in der That Werke von dauerndem Werte
geschaffen hat. So lange es einen Gegensatz zwischen der gereinigten Religion des
modernen Menschen und dem Aberglauben des katholischen Südens mit seinem
Kultus der 33 000 Heiligen geben wird, so lange wird Anzengrubers Humor ver¬
standen werden; so lange es einen Gegensatz zwischen der Äberbildung der Stadt
und der urwüchsigen Einfalt und Wahrhaftigkeit des Dorfbewohners geben wird,
so lange wird Anzengrubers Poesie berechtigt dastehen; so lange die Menschennatur
sich uicht ändert, so lange werden der „Sternsteinhof" und der „Meineidbauer"
und die „Kreuzelschreiber" als wahre Abbilder derselben anerkannt bleiben.

Dies in aller Kürze zur Kennzeichnung unsrer Stellung zu dem größten
österreichischen Dramatiker seit Grillparzer und Raimund. Den Inhalt der ein¬
zelnen Bände, die bisher vorliegen, haben die Grenzboten der letzten Jahrgänge
jedesmal uach ihrem ersten Erscheinen ausführlich besprochen: den „Sternsteinhof,"
deu „Schandfleck" und die „Dorsgänge," deren größerer Teil zuerst in dem Buche
„Sonnenschein und Wolkenschatten" erschienen ist. Im vorliegenden dritten Bande
der Gesamtausgabe sind alle kleinern Erzählungen chronologisch geordnet, um nach
dem eignen Wunsche des Dichters nachdenklicher» Lesern zwanglos ein Bild seiner
künstlerischen Entwicklung zu bieten. Eingeleitet wird diese Gesamtausgabe durch
einen maß- und gehaltvollen Lebensabriß aus der Feder seines langjährigen
Freundes Anton Bettelheim. Maßvoll insbesondre dort, wo es Gelegenheit ge¬
geben hätte, anzuklagen! Anzuklagen die Haltung der Presse und der Bühnen
Wiens gegeuüber dem einheimischen Dichter, dessen endgiltige Anerkennung eigentlich
die Berliner durchgesetzt haben. Es erging ihm wie es Gottfried Keller erging,
dessen Ruhm auch erst von außen hat unes Zürich hineingetragen werden müssen.

Wir werden wohl noch nach Abschluß dieser Gesamtausgabe Gelegenheit finden,
auf sie zurückzukommen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0104] Litteratur über ihn läutern und Wohl auch einigen. Dann wird man seine Vielseitigkeit an¬ erkennen, den „katechetischen" Zug vieler seiner Schriften als einen unter vielen andern Charakterzügen sehen; dann wird man seine Gestaltungskraft bewundern, die dem geistvollen und aus dem Gemüte einer reinen Natur quillcnden Gehalt die Wage hält; dann wird man den wirklich berufenen Volksdichter in ihm sehen, der nicht bloß sür geistreich sein wollende Rezensenten und Verstandesmenschen schrieb; man wird auch zu einer klaren Anschauung vou Auzeugrubers rein poetischem Ver¬ hältnis zum Dorfe und zum Bauerntum gelangen, das wesentlich verschieden von dem andrer Dorfgcschichteudichter ist; man wird endlich sehen, wie ernst er es mit seinem Dichterberufe nahm, und daß er in der That Werke von dauerndem Werte geschaffen hat. So lange es einen Gegensatz zwischen der gereinigten Religion des modernen Menschen und dem Aberglauben des katholischen Südens mit seinem Kultus der 33 000 Heiligen geben wird, so lange wird Anzengrubers Humor ver¬ standen werden; so lange es einen Gegensatz zwischen der Äberbildung der Stadt und der urwüchsigen Einfalt und Wahrhaftigkeit des Dorfbewohners geben wird, so lange wird Anzengrubers Poesie berechtigt dastehen; so lange die Menschennatur sich uicht ändert, so lange werden der „Sternsteinhof" und der „Meineidbauer" und die „Kreuzelschreiber" als wahre Abbilder derselben anerkannt bleiben. Dies in aller Kürze zur Kennzeichnung unsrer Stellung zu dem größten österreichischen Dramatiker seit Grillparzer und Raimund. Den Inhalt der ein¬ zelnen Bände, die bisher vorliegen, haben die Grenzboten der letzten Jahrgänge jedesmal uach ihrem ersten Erscheinen ausführlich besprochen: den „Sternsteinhof," deu „Schandfleck" und die „Dorsgänge," deren größerer Teil zuerst in dem Buche „Sonnenschein und Wolkenschatten" erschienen ist. Im vorliegenden dritten Bande der Gesamtausgabe sind alle kleinern Erzählungen chronologisch geordnet, um nach dem eignen Wunsche des Dichters nachdenklicher» Lesern zwanglos ein Bild seiner künstlerischen Entwicklung zu bieten. Eingeleitet wird diese Gesamtausgabe durch einen maß- und gehaltvollen Lebensabriß aus der Feder seines langjährigen Freundes Anton Bettelheim. Maßvoll insbesondre dort, wo es Gelegenheit ge¬ geben hätte, anzuklagen! Anzuklagen die Haltung der Presse und der Bühnen Wiens gegeuüber dem einheimischen Dichter, dessen endgiltige Anerkennung eigentlich die Berliner durchgesetzt haben. Es erging ihm wie es Gottfried Keller erging, dessen Ruhm auch erst von außen hat unes Zürich hineingetragen werden müssen. Wir werden wohl noch nach Abschluß dieser Gesamtausgabe Gelegenheit finden, auf sie zurückzukommen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/104>, abgerufen am 12.05.2024.