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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Woher, wohin?

konnte kein günstiges in sozialpolitischer Hinsicht sein. In einem Moment des
ungeheuersten technischen Aufschwunges, in dem eine vollständige Neuordnung
aller Vetriebsverhältnisse eintreten mußte, übergab man den auf seine alten
Gebrauche und Privilegien stolzen, tüchtigen, ehrbaren, etwas altväterisch an
seinem Gewohnheitsrecht hängenden, zu einer Wahrnehmung seiner Interessen
aber noch nicht fähigen, nicht organisirten, an bescheidnen Gehorsam gewohnten
Bergarbeitcrstand der ungeheuern Wucht der Spekulationsintcressen der Unter¬
nehmer, die sich -- wenigstens im Ruhrgebiet -- schon 1859 zu einer ge¬
schlossenen Koalition, dem "Verein für die bergbaulichen Interessen im Ober¬
bergamtsbezirk Dortmund" zusammenfanden; er verstand die Gesetzgebung zu
beeinflussen, wie auf die Verkehrsanstalten zu wirken, eine gemeinsame Aktion
gegenüber den Arbeitern, wie Versuche einer gemeinsamen Produktionsregulirung
herbeizuführen."

Drei Jahre darauf konnte Schmoller bereits in der Abhandlung über die
Reform der Gewerbeordnung auf die Bekehrung eines Teiles der Manchester¬
leute hinweisen. "Die abstrakten Doktrinäre unter den Anhängern der Ge¬
werbefreiheit haben alles Patentwesen früher aufs nachdrücklichste bekämpft,
und sie haben jetzt redlich mitgeholfen, ein Patentgesetz in Deutschland einzu¬
führen. Sie haben den Marken- und Musterschutz bekämpft, und jetzt ist fast
jedermann für denselben; sie haben die ausgedehnteste Freiheit in Bezug auf
Lotterie- und Spielpapiere gefordert, Bamberger hat vom Standpunkt der
Gewerbefreiheit aufs äußerste das Gesetz über die Lotterieanleiheu bekämpft,
und wir haben die Spielbanken aufgehoben, wie wir die Prämienpapiere ein¬
geschränkt haben." Die Freiheit, Lebensmittel zu falschem, bestand damals
noch. ,,Man hat den Satz aufgestellt, jeder Konsument solle in der Beziehung
selbst für sich sorgen. Ich danke dafür, meine Milch und mein Fleisch täglich
selbst zu untersuchen; das kommt mir gerade so vor, als wenn man von mir
verlangte, ich solle meine Briefe selbst bestellen. Daß eine öffentliche Anstalt
oder ein Beamter Milch, Fleisch u. s. w. untersucht, ist eine der elementarsten
Forderungen der Arbeitsteilung," die seitdem zu allgemeiner Zufriedenheit er¬
füllt worden ist. Schmoller bemerkt bei dieser Gelegenheit: "Die ganzen
Konsumvereine sind etwas Widersinniges vom Standpunkte der Arbeitsteilung."
Mit den Erlassen des Kaisers vom 4. Februar d. I., deren Besprechung den
Schluß der Sammlung bildet, ist der Umschwung vollendet. In diesem letzten
Aufsatze beleuchtet Schmoller die Stellung Bismarcks zu dem großen Reform¬
werke. Der Fürst hatte ihm schon 1875 halb im Scherze einmal gesagt:
"Eigentlich bin ich auch Kathedersozialist, ich habe nur noch keine Zeit dazu."
Bald darauf wurde das Reformwerk mit der Umgestaltung der Gewerbeord¬
nung begonnen und dann bis auf den heutigen Tag ununterbrochen fortgesetzt.
"Es ist das eminente Verdienst des Fürsten Bismarck, trotz aller Zerrissenheit
der politischen Parteien das Staatsschiff so glücklich und kühn den größten


Woher, wohin?

konnte kein günstiges in sozialpolitischer Hinsicht sein. In einem Moment des
ungeheuersten technischen Aufschwunges, in dem eine vollständige Neuordnung
aller Vetriebsverhältnisse eintreten mußte, übergab man den auf seine alten
Gebrauche und Privilegien stolzen, tüchtigen, ehrbaren, etwas altväterisch an
seinem Gewohnheitsrecht hängenden, zu einer Wahrnehmung seiner Interessen
aber noch nicht fähigen, nicht organisirten, an bescheidnen Gehorsam gewohnten
Bergarbeitcrstand der ungeheuern Wucht der Spekulationsintcressen der Unter¬
nehmer, die sich — wenigstens im Ruhrgebiet — schon 1859 zu einer ge¬
schlossenen Koalition, dem »Verein für die bergbaulichen Interessen im Ober¬
bergamtsbezirk Dortmund« zusammenfanden; er verstand die Gesetzgebung zu
beeinflussen, wie auf die Verkehrsanstalten zu wirken, eine gemeinsame Aktion
gegenüber den Arbeitern, wie Versuche einer gemeinsamen Produktionsregulirung
herbeizuführen."

Drei Jahre darauf konnte Schmoller bereits in der Abhandlung über die
Reform der Gewerbeordnung auf die Bekehrung eines Teiles der Manchester¬
leute hinweisen. „Die abstrakten Doktrinäre unter den Anhängern der Ge¬
werbefreiheit haben alles Patentwesen früher aufs nachdrücklichste bekämpft,
und sie haben jetzt redlich mitgeholfen, ein Patentgesetz in Deutschland einzu¬
führen. Sie haben den Marken- und Musterschutz bekämpft, und jetzt ist fast
jedermann für denselben; sie haben die ausgedehnteste Freiheit in Bezug auf
Lotterie- und Spielpapiere gefordert, Bamberger hat vom Standpunkt der
Gewerbefreiheit aufs äußerste das Gesetz über die Lotterieanleiheu bekämpft,
und wir haben die Spielbanken aufgehoben, wie wir die Prämienpapiere ein¬
geschränkt haben." Die Freiheit, Lebensmittel zu falschem, bestand damals
noch. ,,Man hat den Satz aufgestellt, jeder Konsument solle in der Beziehung
selbst für sich sorgen. Ich danke dafür, meine Milch und mein Fleisch täglich
selbst zu untersuchen; das kommt mir gerade so vor, als wenn man von mir
verlangte, ich solle meine Briefe selbst bestellen. Daß eine öffentliche Anstalt
oder ein Beamter Milch, Fleisch u. s. w. untersucht, ist eine der elementarsten
Forderungen der Arbeitsteilung," die seitdem zu allgemeiner Zufriedenheit er¬
füllt worden ist. Schmoller bemerkt bei dieser Gelegenheit: „Die ganzen
Konsumvereine sind etwas Widersinniges vom Standpunkte der Arbeitsteilung."
Mit den Erlassen des Kaisers vom 4. Februar d. I., deren Besprechung den
Schluß der Sammlung bildet, ist der Umschwung vollendet. In diesem letzten
Aufsatze beleuchtet Schmoller die Stellung Bismarcks zu dem großen Reform¬
werke. Der Fürst hatte ihm schon 1875 halb im Scherze einmal gesagt:
„Eigentlich bin ich auch Kathedersozialist, ich habe nur noch keine Zeit dazu."
Bald darauf wurde das Reformwerk mit der Umgestaltung der Gewerbeord¬
nung begonnen und dann bis auf den heutigen Tag ununterbrochen fortgesetzt.
„Es ist das eminente Verdienst des Fürsten Bismarck, trotz aller Zerrissenheit
der politischen Parteien das Staatsschiff so glücklich und kühn den größten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/11>, abgerufen am 12.05.2024.