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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Socialdemokratie und die öffentliche Meiiiiliia,

Was jedem Unbefangenen sofort an dieser Erörterungswcise auffallen muß,
das ist ihre gänzliche Unfruchtbarkeit. Es soll gar nicht betont werden, daß
es sich um die Sozialdemokratie, also um eine Partei handelt, deren Vor¬
handensein der gegenwärtigen Zeit geradezu das Gepräge giebt, und deren
Verhalten, deren Thaten nud Unthaten dem zukünftigen Geschichtschreiber gewiß
wichtiger erscheinen werden, als die jüngst in der Presse bis zum Überdruß
breitgetretenen Zwistigkeiten zwischen Herrn Richter und den frühern Sezessio-
nisten. Es soll nur einfach gesagt werden: innerhalb einer großen politischen
Partei wird ein heftiger Meinungsstreit ausgefochten, und da wissen die ihr
gegeimberstehenden Parteien nichts andres zu sagen als: das geht uns gar
nichts an, daraus können wir sür uns nichts entnehmen? Das kann nicht
richtig sein und ist auch nicht richtig.

Es bedarf wahrlich uicht der Gelehrsamkeit, sondern mir eines geringen
Maßes von Unbefangenheit und eines flüchtigen Blickes ans die Auslassungen
der Vertreter der beiden Richtungen innerhalb der Sozialdemokratie, um zu
erkennen, daß es sich um sehr viel mehr handelt, als um untergeordnete "tak¬
tische Differenzen." Mau vergleiche nur die Reden des Dr. Wille, des Schuh¬
machers Baginskh einerseits und die bemerkenswerte Rede anderseits, die der
Abgeordnete Bebel am 25. August dieses Jahres in Berlin gehalten hat.
Hier die sogenannten Jungen, die doch eigentlich die Alten sind, weil sie nichts
gelernt und nichts vergessen haben, dort das alte Parteihaupt, das zwar keine
seiner Ideen vom Znknnfsstaat aufgegeben hat, das aber doch fo ganz anders
spricht, als es früher gesprochen hat. Hier der alte pessimistische Groll, der
nichts von diesem Staate hofft und erwartet, der die Mitarbeit an der Gesetz¬
gebung als aussichtslos verwirft und verabscheut, der verlangt, daß unverhüllt
auf den Umsturz alles Bestehenden hingearbeitet, daß nicht parlamentirt,
sondern nur agitirt, nud daß, wie Herr Baginsky sagt, offen erklärt werde:
"Was kümmern uns die Philister? Wir sind und bleiben eine revolutionäre
Partei." Dem gegenüber in der Rede des Abgeordneten Bebel, welche grund¬
verschiedene Auffassung! "Die Sozialdemokratie hat stets -- so heißt es da --
das Prinzip vertreten, daß sie sich am Parlamentarismus beteiligen müsse.
Und wenn wir in dei? Reichstag wählen, dann können wir doch nicht sagen:
wir haben zwar gewählt, im übrigen aber ziehen wir uns in den Schmoll¬
winkel zurück und überlassen das Übrige unsern Gegnern." Welcher Abstand
zwischen der revolutionären Verachtung der Philister und dem ehrlichen Be¬
kenntnis des Herrn Bebel, daß es doch nicht zu leugnen sei, daß eine große
Zahl von Arbeitern svzinldemvkratisch gewählt habe, obgleich sie eine Besse¬
rung ihrer Lage vom heutigen Staate hoffe, welcher Abstand zwischen den "revo-
lutionären Phrasen" -- so nennt sie Herr Bebel wörtlich -- der Jüngern und
dem opportunistischen Standpunkte Bebels, daß der Normalarbeitstag, die Ab-
schaffung der Sonntagsarbeit, bessere Arbeitsbedingungen n. s. w. doch geeignet


Die Socialdemokratie und die öffentliche Meiiiiliia,

Was jedem Unbefangenen sofort an dieser Erörterungswcise auffallen muß,
das ist ihre gänzliche Unfruchtbarkeit. Es soll gar nicht betont werden, daß
es sich um die Sozialdemokratie, also um eine Partei handelt, deren Vor¬
handensein der gegenwärtigen Zeit geradezu das Gepräge giebt, und deren
Verhalten, deren Thaten nud Unthaten dem zukünftigen Geschichtschreiber gewiß
wichtiger erscheinen werden, als die jüngst in der Presse bis zum Überdruß
breitgetretenen Zwistigkeiten zwischen Herrn Richter und den frühern Sezessio-
nisten. Es soll nur einfach gesagt werden: innerhalb einer großen politischen
Partei wird ein heftiger Meinungsstreit ausgefochten, und da wissen die ihr
gegeimberstehenden Parteien nichts andres zu sagen als: das geht uns gar
nichts an, daraus können wir sür uns nichts entnehmen? Das kann nicht
richtig sein und ist auch nicht richtig.

Es bedarf wahrlich uicht der Gelehrsamkeit, sondern mir eines geringen
Maßes von Unbefangenheit und eines flüchtigen Blickes ans die Auslassungen
der Vertreter der beiden Richtungen innerhalb der Sozialdemokratie, um zu
erkennen, daß es sich um sehr viel mehr handelt, als um untergeordnete „tak¬
tische Differenzen." Mau vergleiche nur die Reden des Dr. Wille, des Schuh¬
machers Baginskh einerseits und die bemerkenswerte Rede anderseits, die der
Abgeordnete Bebel am 25. August dieses Jahres in Berlin gehalten hat.
Hier die sogenannten Jungen, die doch eigentlich die Alten sind, weil sie nichts
gelernt und nichts vergessen haben, dort das alte Parteihaupt, das zwar keine
seiner Ideen vom Znknnfsstaat aufgegeben hat, das aber doch fo ganz anders
spricht, als es früher gesprochen hat. Hier der alte pessimistische Groll, der
nichts von diesem Staate hofft und erwartet, der die Mitarbeit an der Gesetz¬
gebung als aussichtslos verwirft und verabscheut, der verlangt, daß unverhüllt
auf den Umsturz alles Bestehenden hingearbeitet, daß nicht parlamentirt,
sondern nur agitirt, nud daß, wie Herr Baginsky sagt, offen erklärt werde:
„Was kümmern uns die Philister? Wir sind und bleiben eine revolutionäre
Partei." Dem gegenüber in der Rede des Abgeordneten Bebel, welche grund¬
verschiedene Auffassung! „Die Sozialdemokratie hat stets — so heißt es da —
das Prinzip vertreten, daß sie sich am Parlamentarismus beteiligen müsse.
Und wenn wir in dei? Reichstag wählen, dann können wir doch nicht sagen:
wir haben zwar gewählt, im übrigen aber ziehen wir uns in den Schmoll¬
winkel zurück und überlassen das Übrige unsern Gegnern." Welcher Abstand
zwischen der revolutionären Verachtung der Philister und dem ehrlichen Be¬
kenntnis des Herrn Bebel, daß es doch nicht zu leugnen sei, daß eine große
Zahl von Arbeitern svzinldemvkratisch gewählt habe, obgleich sie eine Besse¬
rung ihrer Lage vom heutigen Staate hoffe, welcher Abstand zwischen den „revo-
lutionären Phrasen" — so nennt sie Herr Bebel wörtlich — der Jüngern und
dem opportunistischen Standpunkte Bebels, daß der Normalarbeitstag, die Ab-
schaffung der Sonntagsarbeit, bessere Arbeitsbedingungen n. s. w. doch geeignet


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[0139] Die Socialdemokratie und die öffentliche Meiiiiliia, Was jedem Unbefangenen sofort an dieser Erörterungswcise auffallen muß, das ist ihre gänzliche Unfruchtbarkeit. Es soll gar nicht betont werden, daß es sich um die Sozialdemokratie, also um eine Partei handelt, deren Vor¬ handensein der gegenwärtigen Zeit geradezu das Gepräge giebt, und deren Verhalten, deren Thaten nud Unthaten dem zukünftigen Geschichtschreiber gewiß wichtiger erscheinen werden, als die jüngst in der Presse bis zum Überdruß breitgetretenen Zwistigkeiten zwischen Herrn Richter und den frühern Sezessio- nisten. Es soll nur einfach gesagt werden: innerhalb einer großen politischen Partei wird ein heftiger Meinungsstreit ausgefochten, und da wissen die ihr gegeimberstehenden Parteien nichts andres zu sagen als: das geht uns gar nichts an, daraus können wir sür uns nichts entnehmen? Das kann nicht richtig sein und ist auch nicht richtig. Es bedarf wahrlich uicht der Gelehrsamkeit, sondern mir eines geringen Maßes von Unbefangenheit und eines flüchtigen Blickes ans die Auslassungen der Vertreter der beiden Richtungen innerhalb der Sozialdemokratie, um zu erkennen, daß es sich um sehr viel mehr handelt, als um untergeordnete „tak¬ tische Differenzen." Mau vergleiche nur die Reden des Dr. Wille, des Schuh¬ machers Baginskh einerseits und die bemerkenswerte Rede anderseits, die der Abgeordnete Bebel am 25. August dieses Jahres in Berlin gehalten hat. Hier die sogenannten Jungen, die doch eigentlich die Alten sind, weil sie nichts gelernt und nichts vergessen haben, dort das alte Parteihaupt, das zwar keine seiner Ideen vom Znknnfsstaat aufgegeben hat, das aber doch fo ganz anders spricht, als es früher gesprochen hat. Hier der alte pessimistische Groll, der nichts von diesem Staate hofft und erwartet, der die Mitarbeit an der Gesetz¬ gebung als aussichtslos verwirft und verabscheut, der verlangt, daß unverhüllt auf den Umsturz alles Bestehenden hingearbeitet, daß nicht parlamentirt, sondern nur agitirt, nud daß, wie Herr Baginsky sagt, offen erklärt werde: „Was kümmern uns die Philister? Wir sind und bleiben eine revolutionäre Partei." Dem gegenüber in der Rede des Abgeordneten Bebel, welche grund¬ verschiedene Auffassung! „Die Sozialdemokratie hat stets — so heißt es da — das Prinzip vertreten, daß sie sich am Parlamentarismus beteiligen müsse. Und wenn wir in dei? Reichstag wählen, dann können wir doch nicht sagen: wir haben zwar gewählt, im übrigen aber ziehen wir uns in den Schmoll¬ winkel zurück und überlassen das Übrige unsern Gegnern." Welcher Abstand zwischen der revolutionären Verachtung der Philister und dem ehrlichen Be¬ kenntnis des Herrn Bebel, daß es doch nicht zu leugnen sei, daß eine große Zahl von Arbeitern svzinldemvkratisch gewählt habe, obgleich sie eine Besse¬ rung ihrer Lage vom heutigen Staate hoffe, welcher Abstand zwischen den „revo- lutionären Phrasen" — so nennt sie Herr Bebel wörtlich — der Jüngern und dem opportunistischen Standpunkte Bebels, daß der Normalarbeitstag, die Ab- schaffung der Sonntagsarbeit, bessere Arbeitsbedingungen n. s. w. doch geeignet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/139>, abgerufen am 11.05.2024.