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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozwldemokratie und die öffentliche Meinung

Partei führt sich die Bewegung ein, und mit himmelanstttrmender Kritik gegen¬
über allem Bestehenden vereinigt sie, Schrecken und Furcht um sich verbreitend,
eine Kraft der Propaganda, die keine Gewaltmittel zurückzudrängen vermögen.
Aber je weiter die Kreise des Volkes werden, die sich der Bewegung an¬
schließen, desto weiter wird auch der Gesichtskreis der Partei und ihrer Führer,
desto größer für sie die Notwendigkeit, mit den gegebenen Verhältnissen zu
rechnen und nicht so ohne weiteres einen Staat über den Haufen zu werfen,
von dem man selbst einen so bedeutenden Teil bildet. Je größer die Zahl
der Anhänger wird, desto größer wird die Zahl und der Einfluß der besonnenen
Elemente, die sich zuerst der Bewegung gegenüber spröde verhalten haben und
sich ihr auch jetzt nicht um doktrinärer, weitanssehender Zukunftsideen
willen, sondern zur Erreichung praktischer Aufgaben auf dem Boden des
Staates anschließen. Die Bewegung gewinnt an Breite; aber was sie an
Breite gewinnt, verliert sie an revolutionärer Kraft. Die Herrschaft der Un¬
bedingten nähert sich ihrem Ende. Zugleich beginnt der bestehende Staat,
wenn er noch Lebensberechtigung und Lebenskraft genug besitzt, von der richtigen
Annahme ausgehend, daß eine Bewegung, die so gewaltige Ausdehnung an¬
nimmt, ihren Grund in bestehenden Mißständen haben müsse, den Ursachen
der Bewegung nachzuspüren, berechtigte Beschwerden zu erkennen und ihnen
durch Reformen abzuhelfen, und auch dies trägt wieder nur dazu bei, den
Einfluß der Gemäßigten zu erhöhen, den Pessimismus der Revolutionäre
Lügen zu strafen und die Parteileitung zu veranlassen, friedlichere Saiten auf¬
zuziehen, um die besonnenen Bestandteile, die im Gegensatz zu dem Häuflein
Verzweifelter die wahre Macht der Partei bilden, bei der Fahne zu halten.

Das ist der Weg,, auf dem sich trotz mancher Zwischenfälle und Ver¬
zögerungen noch immer die Partei des Bestehenden und die Partei der Zu¬
kunftshoffnungen einander genähert und gegen einander abgeschliffen haben,
und so werden sich auch diesmal wieder zwei Welten mit einander vereinigen,
die sich zunächst abzustoßen und auszuschließen schienen, die so entfernt von
einander waren, daß die Kleinmütigen meinten, es gäbe keinen andern Ausweg
als den physischen Kampf, die Kleinmütigen, denen das Gesetz der Weltordnung
unbekannt ist, daß wir trotz allem fortschreiten, und daß sich immer und immer
wieder aus menschlichem Unsinn göttlicher Sinn entwickelt.

Dem Wissenden mag es freilich trivial klingen, aber bei der Neigung des
gebildeten Publikums, namentlich des erst so jung emporgekommen?" Bürger¬
tums, das seines eignen Ursprunges nicht mehr recht eingedenk ist, gegenüber
der Sozialdemokratie alle beruhigenden Lehren der Vergangenheit in den Wind
zu schlagen, ist es doch nützlich, es öfter zu wiederholen, wie es sich doch
ganz ebenso verhielt mit dem Ansturme, den in unserm Jahrhundert das
Bürgertum gegenüber dem Staate unternommen hat. Wem muß nicht, wenn
er sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts vergegen-


Die Sozwldemokratie und die öffentliche Meinung

Partei führt sich die Bewegung ein, und mit himmelanstttrmender Kritik gegen¬
über allem Bestehenden vereinigt sie, Schrecken und Furcht um sich verbreitend,
eine Kraft der Propaganda, die keine Gewaltmittel zurückzudrängen vermögen.
Aber je weiter die Kreise des Volkes werden, die sich der Bewegung an¬
schließen, desto weiter wird auch der Gesichtskreis der Partei und ihrer Führer,
desto größer für sie die Notwendigkeit, mit den gegebenen Verhältnissen zu
rechnen und nicht so ohne weiteres einen Staat über den Haufen zu werfen,
von dem man selbst einen so bedeutenden Teil bildet. Je größer die Zahl
der Anhänger wird, desto größer wird die Zahl und der Einfluß der besonnenen
Elemente, die sich zuerst der Bewegung gegenüber spröde verhalten haben und
sich ihr auch jetzt nicht um doktrinärer, weitanssehender Zukunftsideen
willen, sondern zur Erreichung praktischer Aufgaben auf dem Boden des
Staates anschließen. Die Bewegung gewinnt an Breite; aber was sie an
Breite gewinnt, verliert sie an revolutionärer Kraft. Die Herrschaft der Un¬
bedingten nähert sich ihrem Ende. Zugleich beginnt der bestehende Staat,
wenn er noch Lebensberechtigung und Lebenskraft genug besitzt, von der richtigen
Annahme ausgehend, daß eine Bewegung, die so gewaltige Ausdehnung an¬
nimmt, ihren Grund in bestehenden Mißständen haben müsse, den Ursachen
der Bewegung nachzuspüren, berechtigte Beschwerden zu erkennen und ihnen
durch Reformen abzuhelfen, und auch dies trägt wieder nur dazu bei, den
Einfluß der Gemäßigten zu erhöhen, den Pessimismus der Revolutionäre
Lügen zu strafen und die Parteileitung zu veranlassen, friedlichere Saiten auf¬
zuziehen, um die besonnenen Bestandteile, die im Gegensatz zu dem Häuflein
Verzweifelter die wahre Macht der Partei bilden, bei der Fahne zu halten.

Das ist der Weg,, auf dem sich trotz mancher Zwischenfälle und Ver¬
zögerungen noch immer die Partei des Bestehenden und die Partei der Zu¬
kunftshoffnungen einander genähert und gegen einander abgeschliffen haben,
und so werden sich auch diesmal wieder zwei Welten mit einander vereinigen,
die sich zunächst abzustoßen und auszuschließen schienen, die so entfernt von
einander waren, daß die Kleinmütigen meinten, es gäbe keinen andern Ausweg
als den physischen Kampf, die Kleinmütigen, denen das Gesetz der Weltordnung
unbekannt ist, daß wir trotz allem fortschreiten, und daß sich immer und immer
wieder aus menschlichem Unsinn göttlicher Sinn entwickelt.

Dem Wissenden mag es freilich trivial klingen, aber bei der Neigung des
gebildeten Publikums, namentlich des erst so jung emporgekommen?» Bürger¬
tums, das seines eignen Ursprunges nicht mehr recht eingedenk ist, gegenüber
der Sozialdemokratie alle beruhigenden Lehren der Vergangenheit in den Wind
zu schlagen, ist es doch nützlich, es öfter zu wiederholen, wie es sich doch
ganz ebenso verhielt mit dem Ansturme, den in unserm Jahrhundert das
Bürgertum gegenüber dem Staate unternommen hat. Wem muß nicht, wenn
er sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts vergegen-


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[0141] Die Sozwldemokratie und die öffentliche Meinung Partei führt sich die Bewegung ein, und mit himmelanstttrmender Kritik gegen¬ über allem Bestehenden vereinigt sie, Schrecken und Furcht um sich verbreitend, eine Kraft der Propaganda, die keine Gewaltmittel zurückzudrängen vermögen. Aber je weiter die Kreise des Volkes werden, die sich der Bewegung an¬ schließen, desto weiter wird auch der Gesichtskreis der Partei und ihrer Führer, desto größer für sie die Notwendigkeit, mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen und nicht so ohne weiteres einen Staat über den Haufen zu werfen, von dem man selbst einen so bedeutenden Teil bildet. Je größer die Zahl der Anhänger wird, desto größer wird die Zahl und der Einfluß der besonnenen Elemente, die sich zuerst der Bewegung gegenüber spröde verhalten haben und sich ihr auch jetzt nicht um doktrinärer, weitanssehender Zukunftsideen willen, sondern zur Erreichung praktischer Aufgaben auf dem Boden des Staates anschließen. Die Bewegung gewinnt an Breite; aber was sie an Breite gewinnt, verliert sie an revolutionärer Kraft. Die Herrschaft der Un¬ bedingten nähert sich ihrem Ende. Zugleich beginnt der bestehende Staat, wenn er noch Lebensberechtigung und Lebenskraft genug besitzt, von der richtigen Annahme ausgehend, daß eine Bewegung, die so gewaltige Ausdehnung an¬ nimmt, ihren Grund in bestehenden Mißständen haben müsse, den Ursachen der Bewegung nachzuspüren, berechtigte Beschwerden zu erkennen und ihnen durch Reformen abzuhelfen, und auch dies trägt wieder nur dazu bei, den Einfluß der Gemäßigten zu erhöhen, den Pessimismus der Revolutionäre Lügen zu strafen und die Parteileitung zu veranlassen, friedlichere Saiten auf¬ zuziehen, um die besonnenen Bestandteile, die im Gegensatz zu dem Häuflein Verzweifelter die wahre Macht der Partei bilden, bei der Fahne zu halten. Das ist der Weg,, auf dem sich trotz mancher Zwischenfälle und Ver¬ zögerungen noch immer die Partei des Bestehenden und die Partei der Zu¬ kunftshoffnungen einander genähert und gegen einander abgeschliffen haben, und so werden sich auch diesmal wieder zwei Welten mit einander vereinigen, die sich zunächst abzustoßen und auszuschließen schienen, die so entfernt von einander waren, daß die Kleinmütigen meinten, es gäbe keinen andern Ausweg als den physischen Kampf, die Kleinmütigen, denen das Gesetz der Weltordnung unbekannt ist, daß wir trotz allem fortschreiten, und daß sich immer und immer wieder aus menschlichem Unsinn göttlicher Sinn entwickelt. Dem Wissenden mag es freilich trivial klingen, aber bei der Neigung des gebildeten Publikums, namentlich des erst so jung emporgekommen?» Bürger¬ tums, das seines eignen Ursprunges nicht mehr recht eingedenk ist, gegenüber der Sozialdemokratie alle beruhigenden Lehren der Vergangenheit in den Wind zu schlagen, ist es doch nützlich, es öfter zu wiederholen, wie es sich doch ganz ebenso verhielt mit dem Ansturme, den in unserm Jahrhundert das Bürgertum gegenüber dem Staate unternommen hat. Wem muß nicht, wenn er sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts vergegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/141>, abgerufen am 16.06.2024.