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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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hat der Dichter alles Mögliche gethan, uns glaublich zu machen, daß ein junges
Mädchen, die bei aller Reinheit doch nicht ohne Welterfahrung ist, die in der
Eingangsszene gerade zu Hermann sagt, sie wisse recht gilt, was es zu bedeuten
habe, wenn vornehme junge Herren gegen ein armes Mädchen liebenswürdig
seien, einen solchen Schritt größter Unvorsichtigkeit begehen könne; gewiß hat
er in seiner bekannten Erklärung "In eigner Sache," sehr beachtenswerte
Gründe dafür angeführt. Aber ein gewisser Anstoß bleibt für mein Gefühl
immer bestehen; andre mögen anders empfinden. Giebt man jedoch dem Dichter
diesen einen Punkt zu, so verdient die weitere Entwicklung alles Lob, sie hätte
er nicht zu verteidigen brauchen.

Wie Lene in der Nacht erscheint, läßt Hermann alle seine Nerführerküuste
spielen. Doch als ihr erst völlig klar wird, was er will, und als ihr in
demselben Augenblick der Gedanke aufsteigt, Paul Ilefeld sei gewiß drüben,
um von ihr Abschied zu nehmen, da schreit sie -- da Hermann sie nicht frei¬
geben will -- um Hilfe. Langenthal, Juliane und dann Ilefeld stürzen
herbei. Der erstere erkennt seinen Irrtum und bald auch die Unschuld Lenens;
er selbst führt, seinem Idealismus treu, Leue in die Arme Jlefelds und fragt
Juliane, in diesem Augenblick ihren Wert erkennend: "Wollen Sie mit mir die
Reise wagen in ein unbekanntes Land hinein?"

Die Wendung kommt plötzlich, aber ich meine, sie ist nicht unnatürlich;
sie ist nur eine Folge der Erkenntnis, die ihm gekommen ist: er weiß jetzt, daß
die "Haubenlerche" wegen ihrer sozialen Stellung und ihrer Jugend, so warm
er auch für sie empfindet, nicht zu ihm paßt, und sobald er das weiß, drängt
sich ihm von selbst der Gedanke auf, daß er an Juliane die beste Lebensgefährtin
haben werde, die ein Mann, wie er, sich wünschen könne: er liebt sie noch nicht,
aber er fühlt eine Hochachtung für sie, die bald in Liebe übergehen wird. So,
meine ich, ist der Schluß des Stückes ciufzufasseu, und ist das richtig, dann
zerfällt der Einwurf einiger Beurteiler, es hebe als soziales Drama an, laufe
aber in ein Familiendrama aus, in nichts: beides ist untrennbar verbunden;
und mir scheint, gerade dadurch führt uns der Dichter recht eindringlich und
auch für das Volk verständlich die Wahrheit zu Gemüte, daß die sozialen
Unterschiede auch jetzt noch Kraft und Bedeutung haben, daß eine völlige
soziale Gleichheit ein Traumbild ist, bei dessen Verwirklichung schließlich alle
Beteiligten verlieren würden.

Hoffentlich zeigen diese Ausführungen, daß ich Recht hatte, wenn ich sagte,
Wildenbruch bleibe überall anregend und anschaulich. Doch möchte ich zum
Schluß noch hervorheben, daß ein gutes Teil von dem Werte des Stückes in
der Einzelansführung und in der Kleinmalerei liegt. Das läßt sich hier nur
nussprechen, nicht nachweisen; aber wer die "Haubenlerche" gesehen hat (beim
L L esen geht sehr viel verloren), wird mir Recht geben.




hat der Dichter alles Mögliche gethan, uns glaublich zu machen, daß ein junges
Mädchen, die bei aller Reinheit doch nicht ohne Welterfahrung ist, die in der
Eingangsszene gerade zu Hermann sagt, sie wisse recht gilt, was es zu bedeuten
habe, wenn vornehme junge Herren gegen ein armes Mädchen liebenswürdig
seien, einen solchen Schritt größter Unvorsichtigkeit begehen könne; gewiß hat
er in seiner bekannten Erklärung „In eigner Sache," sehr beachtenswerte
Gründe dafür angeführt. Aber ein gewisser Anstoß bleibt für mein Gefühl
immer bestehen; andre mögen anders empfinden. Giebt man jedoch dem Dichter
diesen einen Punkt zu, so verdient die weitere Entwicklung alles Lob, sie hätte
er nicht zu verteidigen brauchen.

Wie Lene in der Nacht erscheint, läßt Hermann alle seine Nerführerküuste
spielen. Doch als ihr erst völlig klar wird, was er will, und als ihr in
demselben Augenblick der Gedanke aufsteigt, Paul Ilefeld sei gewiß drüben,
um von ihr Abschied zu nehmen, da schreit sie — da Hermann sie nicht frei¬
geben will — um Hilfe. Langenthal, Juliane und dann Ilefeld stürzen
herbei. Der erstere erkennt seinen Irrtum und bald auch die Unschuld Lenens;
er selbst führt, seinem Idealismus treu, Leue in die Arme Jlefelds und fragt
Juliane, in diesem Augenblick ihren Wert erkennend: „Wollen Sie mit mir die
Reise wagen in ein unbekanntes Land hinein?"

Die Wendung kommt plötzlich, aber ich meine, sie ist nicht unnatürlich;
sie ist nur eine Folge der Erkenntnis, die ihm gekommen ist: er weiß jetzt, daß
die „Haubenlerche" wegen ihrer sozialen Stellung und ihrer Jugend, so warm
er auch für sie empfindet, nicht zu ihm paßt, und sobald er das weiß, drängt
sich ihm von selbst der Gedanke auf, daß er an Juliane die beste Lebensgefährtin
haben werde, die ein Mann, wie er, sich wünschen könne: er liebt sie noch nicht,
aber er fühlt eine Hochachtung für sie, die bald in Liebe übergehen wird. So,
meine ich, ist der Schluß des Stückes ciufzufasseu, und ist das richtig, dann
zerfällt der Einwurf einiger Beurteiler, es hebe als soziales Drama an, laufe
aber in ein Familiendrama aus, in nichts: beides ist untrennbar verbunden;
und mir scheint, gerade dadurch führt uns der Dichter recht eindringlich und
auch für das Volk verständlich die Wahrheit zu Gemüte, daß die sozialen
Unterschiede auch jetzt noch Kraft und Bedeutung haben, daß eine völlige
soziale Gleichheit ein Traumbild ist, bei dessen Verwirklichung schließlich alle
Beteiligten verlieren würden.

Hoffentlich zeigen diese Ausführungen, daß ich Recht hatte, wenn ich sagte,
Wildenbruch bleibe überall anregend und anschaulich. Doch möchte ich zum
Schluß noch hervorheben, daß ein gutes Teil von dem Werte des Stückes in
der Einzelansführung und in der Kleinmalerei liegt. Das läßt sich hier nur
nussprechen, nicht nachweisen; aber wer die „Haubenlerche" gesehen hat (beim
L L esen geht sehr viel verloren), wird mir Recht geben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/287>, abgerufen am 14.05.2024.