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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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lehrt. Die religiösen Dogmen interessiren den Staat und seine Glieder nur
insoweit, als sie sich auf die Moral und diejenigen Pflichten beziehen, die ihre
Bekenner gegen andre zu erfüllen haben. Es giebt also ein rein bürgerliches
Glaubensbekenntnis, dessen Artikel der Souverän bestimmt, nicht als religiöse
Dogmen, sondern als gesellschaftliche Grundsätze, ohne die es unmöglich ist,
ein guter Bürger und treuer Unterthan zu sein. Der Staat kann niemand
zwingen, daran zu glauben, aber er kann jeden ausstoßen, der nicht daran
glaubt; er kaun ihn verbannen, nicht als gottlos, sondern als unfähig, Gesetz
und Recht (IvL lois, 1a. Mtiov) zu lieben und der Pflicht nötigenfalls sein
Leben zu opfern. Der Staat kann übrigens verschiedne Religionen dulden;
nur die Unduldsamkeit darf er nicht gestatten. Wer zu sagen wagt: "Außer
der Kirche kein Heil," soll vom Staate ausgeschlossen werden, es sei denn,
daß der Staat die Kirche und der Fürst der Oberpriester sei.

Rousseau verneint die Kirche, und doch giebt er zu, daß seine Religion
nur dem politischen, nicht dem religiösen Bedürfnis des Menschen genüge; er
sieht sich deshalb genötigt, nicht bloß persönliche Neligionsmeinungcn, sondern
auch religiöse Kultusgemeiuschafteu zu dulden. Er erkennt dem Staate das
Recht zu, die Religion in ihren rechtlichen Beziehungen zu bestimmen und will
ein Verteidiger der größten Toleranz in Glnubenssachen sein, und doch laßt
er sich verleiten, den ungläubigen und andersgläubigen Staatsangehörigen den
staatlichen Schutz zu entziehen, obwohl sie niemandes Rechte verletzt haben,
setzt also an Stelle der religiösen die staatliche Unduldsamkeit.

Bei der Frauenerziehung liegt in Frankreich, wie bei uns, die Gefahr
einer Bevorzugung der Geisteskultur zum Nachteil der körperlichen Ent¬
wicklung nahe, wodurch der Frau die Lösung ihrer rein menschlichen wie
nationalen Aufgabe erschwert, ja unmöglich gemacht wird. Man empfiehlt
daher dort zur Verhütung des nachteiligen Einflusses unsrer moderne"?
Kultur auf die körperliche Entwicklung, wie zur Beseitigung der von Ge¬
schlecht zu Geschlecht wachsenden krankhaften Anlagen, wie Nervosität, Blut-
armut u. s. w. besondre Vorkehrungen bei der weiblichen Erziehung und zwar
dreierlei, nämlich hünfige Bewegung in Luft und Sonne, regelmäßige Leibes¬
übungen, Behandlung mit kaltem Wasser. Die Leibesübungen sollen zugleich
eine Schule des guten Tons, der Grazie, jn nach Dupcmloups Forderung
selbst des Gesichtsausdruckes (xn^sioZnoniie) sein/") Für die Pensionate werden
vollkommene Kaltwassereinrichtuugeu in Vorschlag gebracht, und man findet solche
bereits in den Pensionaten der Ehrenlegion. Man bekämpft weiter die Manie
junger Mädchen, sich zur Sicherung einer sorgenlosen Zukunft und einer an¬
gemessenen Beschäftigung im Falle unfreiwilligen Lcdigbleibens in den Pensio-



*) Vergl. I^vteros sur dös Kilos vt sur les stuäos s>ni cnnvisnnsnt "ux
l'vmmss ltans 1o monitv x-"r ZIssi'. vnpnnloux, övSquo ni'OrlvitQS. ?Alis 1879.

lehrt. Die religiösen Dogmen interessiren den Staat und seine Glieder nur
insoweit, als sie sich auf die Moral und diejenigen Pflichten beziehen, die ihre
Bekenner gegen andre zu erfüllen haben. Es giebt also ein rein bürgerliches
Glaubensbekenntnis, dessen Artikel der Souverän bestimmt, nicht als religiöse
Dogmen, sondern als gesellschaftliche Grundsätze, ohne die es unmöglich ist,
ein guter Bürger und treuer Unterthan zu sein. Der Staat kann niemand
zwingen, daran zu glauben, aber er kann jeden ausstoßen, der nicht daran
glaubt; er kaun ihn verbannen, nicht als gottlos, sondern als unfähig, Gesetz
und Recht (IvL lois, 1a. Mtiov) zu lieben und der Pflicht nötigenfalls sein
Leben zu opfern. Der Staat kann übrigens verschiedne Religionen dulden;
nur die Unduldsamkeit darf er nicht gestatten. Wer zu sagen wagt: „Außer
der Kirche kein Heil," soll vom Staate ausgeschlossen werden, es sei denn,
daß der Staat die Kirche und der Fürst der Oberpriester sei.

Rousseau verneint die Kirche, und doch giebt er zu, daß seine Religion
nur dem politischen, nicht dem religiösen Bedürfnis des Menschen genüge; er
sieht sich deshalb genötigt, nicht bloß persönliche Neligionsmeinungcn, sondern
auch religiöse Kultusgemeiuschafteu zu dulden. Er erkennt dem Staate das
Recht zu, die Religion in ihren rechtlichen Beziehungen zu bestimmen und will
ein Verteidiger der größten Toleranz in Glnubenssachen sein, und doch laßt
er sich verleiten, den ungläubigen und andersgläubigen Staatsangehörigen den
staatlichen Schutz zu entziehen, obwohl sie niemandes Rechte verletzt haben,
setzt also an Stelle der religiösen die staatliche Unduldsamkeit.

Bei der Frauenerziehung liegt in Frankreich, wie bei uns, die Gefahr
einer Bevorzugung der Geisteskultur zum Nachteil der körperlichen Ent¬
wicklung nahe, wodurch der Frau die Lösung ihrer rein menschlichen wie
nationalen Aufgabe erschwert, ja unmöglich gemacht wird. Man empfiehlt
daher dort zur Verhütung des nachteiligen Einflusses unsrer moderne«?
Kultur auf die körperliche Entwicklung, wie zur Beseitigung der von Ge¬
schlecht zu Geschlecht wachsenden krankhaften Anlagen, wie Nervosität, Blut-
armut u. s. w. besondre Vorkehrungen bei der weiblichen Erziehung und zwar
dreierlei, nämlich hünfige Bewegung in Luft und Sonne, regelmäßige Leibes¬
übungen, Behandlung mit kaltem Wasser. Die Leibesübungen sollen zugleich
eine Schule des guten Tons, der Grazie, jn nach Dupcmloups Forderung
selbst des Gesichtsausdruckes (xn^sioZnoniie) sein/") Für die Pensionate werden
vollkommene Kaltwassereinrichtuugeu in Vorschlag gebracht, und man findet solche
bereits in den Pensionaten der Ehrenlegion. Man bekämpft weiter die Manie
junger Mädchen, sich zur Sicherung einer sorgenlosen Zukunft und einer an¬
gemessenen Beschäftigung im Falle unfreiwilligen Lcdigbleibens in den Pensio-



*) Vergl. I^vteros sur dös Kilos vt sur les stuäos s>ni cnnvisnnsnt »ux
l'vmmss ltans 1o monitv x-»r ZIssi'. vnpnnloux, övSquo ni'OrlvitQS. ?Alis 1879.
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[0362] lehrt. Die religiösen Dogmen interessiren den Staat und seine Glieder nur insoweit, als sie sich auf die Moral und diejenigen Pflichten beziehen, die ihre Bekenner gegen andre zu erfüllen haben. Es giebt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel der Souverän bestimmt, nicht als religiöse Dogmen, sondern als gesellschaftliche Grundsätze, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und treuer Unterthan zu sein. Der Staat kann niemand zwingen, daran zu glauben, aber er kann jeden ausstoßen, der nicht daran glaubt; er kaun ihn verbannen, nicht als gottlos, sondern als unfähig, Gesetz und Recht (IvL lois, 1a. Mtiov) zu lieben und der Pflicht nötigenfalls sein Leben zu opfern. Der Staat kann übrigens verschiedne Religionen dulden; nur die Unduldsamkeit darf er nicht gestatten. Wer zu sagen wagt: „Außer der Kirche kein Heil," soll vom Staate ausgeschlossen werden, es sei denn, daß der Staat die Kirche und der Fürst der Oberpriester sei. Rousseau verneint die Kirche, und doch giebt er zu, daß seine Religion nur dem politischen, nicht dem religiösen Bedürfnis des Menschen genüge; er sieht sich deshalb genötigt, nicht bloß persönliche Neligionsmeinungcn, sondern auch religiöse Kultusgemeiuschafteu zu dulden. Er erkennt dem Staate das Recht zu, die Religion in ihren rechtlichen Beziehungen zu bestimmen und will ein Verteidiger der größten Toleranz in Glnubenssachen sein, und doch laßt er sich verleiten, den ungläubigen und andersgläubigen Staatsangehörigen den staatlichen Schutz zu entziehen, obwohl sie niemandes Rechte verletzt haben, setzt also an Stelle der religiösen die staatliche Unduldsamkeit. Bei der Frauenerziehung liegt in Frankreich, wie bei uns, die Gefahr einer Bevorzugung der Geisteskultur zum Nachteil der körperlichen Ent¬ wicklung nahe, wodurch der Frau die Lösung ihrer rein menschlichen wie nationalen Aufgabe erschwert, ja unmöglich gemacht wird. Man empfiehlt daher dort zur Verhütung des nachteiligen Einflusses unsrer moderne«? Kultur auf die körperliche Entwicklung, wie zur Beseitigung der von Ge¬ schlecht zu Geschlecht wachsenden krankhaften Anlagen, wie Nervosität, Blut- armut u. s. w. besondre Vorkehrungen bei der weiblichen Erziehung und zwar dreierlei, nämlich hünfige Bewegung in Luft und Sonne, regelmäßige Leibes¬ übungen, Behandlung mit kaltem Wasser. Die Leibesübungen sollen zugleich eine Schule des guten Tons, der Grazie, jn nach Dupcmloups Forderung selbst des Gesichtsausdruckes (xn^sioZnoniie) sein/") Für die Pensionate werden vollkommene Kaltwassereinrichtuugeu in Vorschlag gebracht, und man findet solche bereits in den Pensionaten der Ehrenlegion. Man bekämpft weiter die Manie junger Mädchen, sich zur Sicherung einer sorgenlosen Zukunft und einer an¬ gemessenen Beschäftigung im Falle unfreiwilligen Lcdigbleibens in den Pensio- *) Vergl. I^vteros sur dös Kilos vt sur les stuäos s>ni cnnvisnnsnt »ux l'vmmss ltans 1o monitv x-»r ZIssi'. vnpnnloux, övSquo ni'OrlvitQS. ?Alis 1879.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/362>, abgerufen am 19.05.2024.