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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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spinnt. Dadurch mußten sich unbedingt Längen und Wiederholungen einfinden,
die entweder ermüdend wirken, oder, wo der Verfasser, seinen Fehler erkennend,
das Alte mit Gewalt neu kleiden wollte, etwas Verschrobenes, Gesuchtes an
sich tragen. Doch diese Schwäche, der ja immer noch eine beträchtliche Summe
von Vorzügen gegenübersteht, wird von der Masse der Leser kaum empfunden
und ist vom geschäftlichen Standpunkte des Verfassers zu verzeihen. Er bean¬
sprucht ja mit seinen Berliner Lebensbildern nicht einen Platz auf dem Parnaß
und im dauernden Gedächtnis der Nachwelt zu erobern. Er will die Mit¬
welt auf seiner Seite haben, und das hat er durch keines seiner Werke offen¬
kundiger erreicht, als durch seine Buchholzbücher.

Unter den obwaltenden Umständen ist es eine natürliche Erscheinung, daß
sich Stinte mit der Zeit mehr und mehr daran gewöhnt hat, ans eine leb¬
hafte Handlung in seinen Büchern zu verzichten und statt ihrer eine um so
größere Summe von Reflexion zu bieten. Der aufmerksame Leser hat diesen
Übergang längst bemerkt; mit jedem neuen Bande der Buchholzgeschichte wurde
er deutlicher. Die dichterische Erfindung wurde schwächer, das reflektirende
Beiwerk umfangreicher; nur der Humor blieb derselbe, und zwar so, daß er
sich nach und nach mehr von der gemütlichen, als von der komisch wirkenden
Seite geltend machte. Selbstverständlich! Denn eine Komik wie die Stindische
hat eine Stütze nötig, an der sie sich festhält; sie bedarf der Handlungen und
Personen, und soll sie neues bieten, so müssen auch die Handlungen und Per¬
sonen neu sein.

Das aber ist in dem neuesten Werke des Humoristen "Pienchens Braut-
fahrt" uicht der Fall. Die Erfindung des Romanes ist einfach, die Charaktere
kennen wir aus Stindes früheren Humoresken, wo sie als Nebenfiguren meist
mehr oder weniger breit ausgeführt wurden. Und dennoch interessirt diese
"Geschichte mit wenig Handlung und viel Beiwerk" mehr als die letzten
Buchholzbiicher und steht ästhetisch über ihnen. Denn abgesehen von einer
originellen Form der Darstellung -- Stinte unterbricht den schlichten Er¬
zählungston durch Zwischenspiele mit seinem Verleger, die die Erzählung
gleichwohl fördern -- erkennt mau erstens das behandelte Thema klar und
scharf heraus; die Mißverhältnisse, die eine unfertige Bildung zeugt, und die
Art ihres verschieden angestrebten Ausgleiches auch mit der umgebenden Welt
werden deutlich veranschaulicht. Tochter Hille, die über den Zaun, der das
Gebiet ihrer Bildung umhegt, nie hinübergeschant hat, findet den einfachsten
Weg zum Glück in der Liebe zu einem ehrlichen Handwerksgesellen. Pienchen
hingegen, ohne häusliche Erziehung, die Lehrerinnenprüfung hinter sich, mit
einer Menge unverdauten Halbwissens auf Kosten ihrer körperlichen Gesund¬
heit vollgepfropft, überall zwischen Thür und Angel, der Gegenstand des
Spottes und der Mokanterie, von Herzen ein gutes Mädchen, wird, dem
Arm des in Verzweiflung selbst gesuchten Todes entrissen, schließlich ans Bärin-


spinnt. Dadurch mußten sich unbedingt Längen und Wiederholungen einfinden,
die entweder ermüdend wirken, oder, wo der Verfasser, seinen Fehler erkennend,
das Alte mit Gewalt neu kleiden wollte, etwas Verschrobenes, Gesuchtes an
sich tragen. Doch diese Schwäche, der ja immer noch eine beträchtliche Summe
von Vorzügen gegenübersteht, wird von der Masse der Leser kaum empfunden
und ist vom geschäftlichen Standpunkte des Verfassers zu verzeihen. Er bean¬
sprucht ja mit seinen Berliner Lebensbildern nicht einen Platz auf dem Parnaß
und im dauernden Gedächtnis der Nachwelt zu erobern. Er will die Mit¬
welt auf seiner Seite haben, und das hat er durch keines seiner Werke offen¬
kundiger erreicht, als durch seine Buchholzbücher.

Unter den obwaltenden Umständen ist es eine natürliche Erscheinung, daß
sich Stinte mit der Zeit mehr und mehr daran gewöhnt hat, ans eine leb¬
hafte Handlung in seinen Büchern zu verzichten und statt ihrer eine um so
größere Summe von Reflexion zu bieten. Der aufmerksame Leser hat diesen
Übergang längst bemerkt; mit jedem neuen Bande der Buchholzgeschichte wurde
er deutlicher. Die dichterische Erfindung wurde schwächer, das reflektirende
Beiwerk umfangreicher; nur der Humor blieb derselbe, und zwar so, daß er
sich nach und nach mehr von der gemütlichen, als von der komisch wirkenden
Seite geltend machte. Selbstverständlich! Denn eine Komik wie die Stindische
hat eine Stütze nötig, an der sie sich festhält; sie bedarf der Handlungen und
Personen, und soll sie neues bieten, so müssen auch die Handlungen und Per¬
sonen neu sein.

Das aber ist in dem neuesten Werke des Humoristen „Pienchens Braut-
fahrt" uicht der Fall. Die Erfindung des Romanes ist einfach, die Charaktere
kennen wir aus Stindes früheren Humoresken, wo sie als Nebenfiguren meist
mehr oder weniger breit ausgeführt wurden. Und dennoch interessirt diese
„Geschichte mit wenig Handlung und viel Beiwerk" mehr als die letzten
Buchholzbiicher und steht ästhetisch über ihnen. Denn abgesehen von einer
originellen Form der Darstellung — Stinte unterbricht den schlichten Er¬
zählungston durch Zwischenspiele mit seinem Verleger, die die Erzählung
gleichwohl fördern — erkennt mau erstens das behandelte Thema klar und
scharf heraus; die Mißverhältnisse, die eine unfertige Bildung zeugt, und die
Art ihres verschieden angestrebten Ausgleiches auch mit der umgebenden Welt
werden deutlich veranschaulicht. Tochter Hille, die über den Zaun, der das
Gebiet ihrer Bildung umhegt, nie hinübergeschant hat, findet den einfachsten
Weg zum Glück in der Liebe zu einem ehrlichen Handwerksgesellen. Pienchen
hingegen, ohne häusliche Erziehung, die Lehrerinnenprüfung hinter sich, mit
einer Menge unverdauten Halbwissens auf Kosten ihrer körperlichen Gesund¬
heit vollgepfropft, überall zwischen Thür und Angel, der Gegenstand des
Spottes und der Mokanterie, von Herzen ein gutes Mädchen, wird, dem
Arm des in Verzweiflung selbst gesuchten Todes entrissen, schließlich ans Bärin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/528>, abgerufen am 11.05.2024.