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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Sorgen

abwägende Leser, die sing irg, et 8tuäio patriotische Bedenken cinznhören und
zu erwägen willig sind.

Gewiß ist es ein Zeichen wirklicher Einsicht in die drängenden Fragen
der Zeit, wenn Kaiser Wilhelm mit aller Energie an die sozialen Schaden
hinaugetreten ist, um sie durch eine groß geplante Nesormarbeit zu heilen.
Wohl in Zusammenhang damit ist anch die Reform unsers ganzen Schul¬
wesens gedacht. Beides sind aber Fragen, die sich nur lösen lassen unter
freiwilliger Beihilfe derer, die die Kosten der Reform zu tragen haben, und
hier stehen wir sofort dem wunden Punkte gegenüber, der die Schmerzen unsrer
Großindustrie, unsers Großgrundbesitzes und eines sehr namhaften Teiles unsrer
Intelligenz gerade in ihren besten Vertretern hervorgerufen hat. Die ins
Auge gefaßten Ziele, Herstellung des sozialen Friedens, Besserung der Arbeiter¬
verhältnisse, Vertiefung und Vereinfachung unsrer Schulbildung, werden wohl
von jedermann ohne Ausnahme gebilligt, und man ist dem Kaiser dankbar
für den Anstoß, den er gegeben und für die Bewegung, die er in Fluß ge¬
bracht hat. Die Bedenken richten sich gegen das Tempo und gegen einen
nicht wegzuleugnenden Radikalismus, der die Hindernisse nehmen will, wie ein
kühner Reiter den Graben auf der Fuchsjagd. Der alte Spruch Lif äat "mi
vno (lire darf nur sehr ausnahmsweise in Fragen des staatlichen Lebeus An¬
wendung finden, und wenn wir auch weit entfernt sind, sür Gesetzesvorlagen
das Horazische uaumu prsumwr in ciuuum in Anspruch zu nehmen, so meinen
wir doch, daß weder die Sozialreform noch die Schulreform bereits spruchreif
seien. Die Arbeiterschutzkvnserenz und die Schulreformkonferenz sind beide
gleich wenig populär geworden, gerade in den am meisten in Mitleidenschaft
gezogenen Kreisen steht man ihnen mißtrauisch gegenüber.

Das ist der eine Grund der Unzufriedenheit: der Sprung ins Unbekannte
wird nach der Meinung jener Kreise gethan ohne ausreichende Prüfung der
Vorbedingungen seines Gelingens, aber mit der Gewißheit, daß er sich nicht
mehr wird zurückthuu lassen.

Ein zweiter Grund der Unzufriedenheit liegt in der Unruhe, die durch
eine Reihe vou Personnlveränderuugen in der Verwaltung, der Armee und der
politischen Leitung des Reiches stattgefunden hat. Wir sind in dieser Be¬
ziehung anspruchsvoller geworden als vielleicht irgend eine andre Nation der
Welt. Eine markige und geniale Gestalt wie die des Fürsten Vismarck ver¬
gißt sich nicht; das Bewußtsein der Sicherheit, das der Name Moltke der ge¬
samten Nation gab, und das mit allem Vertrauen auf seinen Nachfolger über¬
tragen wurde, kann gleichfalls uicht ersetzt werden. Die Verfassung des Reiches
und die Organisation der Armee schien auf deu Körper dieser geistigen Niesen
zugeschnitten zu sein. Heute, wo wir ihre feste Hand am Unter und am
Steuer des Staates nicht mehr sehen, regt sich der Zweifel, ob die Kraft der
Ersatzmänner ausreichen werde, das Schiff durch Wind nud Wellen zu leite".


Sorgen

abwägende Leser, die sing irg, et 8tuäio patriotische Bedenken cinznhören und
zu erwägen willig sind.

Gewiß ist es ein Zeichen wirklicher Einsicht in die drängenden Fragen
der Zeit, wenn Kaiser Wilhelm mit aller Energie an die sozialen Schaden
hinaugetreten ist, um sie durch eine groß geplante Nesormarbeit zu heilen.
Wohl in Zusammenhang damit ist anch die Reform unsers ganzen Schul¬
wesens gedacht. Beides sind aber Fragen, die sich nur lösen lassen unter
freiwilliger Beihilfe derer, die die Kosten der Reform zu tragen haben, und
hier stehen wir sofort dem wunden Punkte gegenüber, der die Schmerzen unsrer
Großindustrie, unsers Großgrundbesitzes und eines sehr namhaften Teiles unsrer
Intelligenz gerade in ihren besten Vertretern hervorgerufen hat. Die ins
Auge gefaßten Ziele, Herstellung des sozialen Friedens, Besserung der Arbeiter¬
verhältnisse, Vertiefung und Vereinfachung unsrer Schulbildung, werden wohl
von jedermann ohne Ausnahme gebilligt, und man ist dem Kaiser dankbar
für den Anstoß, den er gegeben und für die Bewegung, die er in Fluß ge¬
bracht hat. Die Bedenken richten sich gegen das Tempo und gegen einen
nicht wegzuleugnenden Radikalismus, der die Hindernisse nehmen will, wie ein
kühner Reiter den Graben auf der Fuchsjagd. Der alte Spruch Lif äat «mi
vno (lire darf nur sehr ausnahmsweise in Fragen des staatlichen Lebeus An¬
wendung finden, und wenn wir auch weit entfernt sind, sür Gesetzesvorlagen
das Horazische uaumu prsumwr in ciuuum in Anspruch zu nehmen, so meinen
wir doch, daß weder die Sozialreform noch die Schulreform bereits spruchreif
seien. Die Arbeiterschutzkvnserenz und die Schulreformkonferenz sind beide
gleich wenig populär geworden, gerade in den am meisten in Mitleidenschaft
gezogenen Kreisen steht man ihnen mißtrauisch gegenüber.

Das ist der eine Grund der Unzufriedenheit: der Sprung ins Unbekannte
wird nach der Meinung jener Kreise gethan ohne ausreichende Prüfung der
Vorbedingungen seines Gelingens, aber mit der Gewißheit, daß er sich nicht
mehr wird zurückthuu lassen.

Ein zweiter Grund der Unzufriedenheit liegt in der Unruhe, die durch
eine Reihe vou Personnlveränderuugen in der Verwaltung, der Armee und der
politischen Leitung des Reiches stattgefunden hat. Wir sind in dieser Be¬
ziehung anspruchsvoller geworden als vielleicht irgend eine andre Nation der
Welt. Eine markige und geniale Gestalt wie die des Fürsten Vismarck ver¬
gißt sich nicht; das Bewußtsein der Sicherheit, das der Name Moltke der ge¬
samten Nation gab, und das mit allem Vertrauen auf seinen Nachfolger über¬
tragen wurde, kann gleichfalls uicht ersetzt werden. Die Verfassung des Reiches
und die Organisation der Armee schien auf deu Körper dieser geistigen Niesen
zugeschnitten zu sein. Heute, wo wir ihre feste Hand am Unter und am
Steuer des Staates nicht mehr sehen, regt sich der Zweifel, ob die Kraft der
Ersatzmänner ausreichen werde, das Schiff durch Wind nud Wellen zu leite».


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[0394] Sorgen abwägende Leser, die sing irg, et 8tuäio patriotische Bedenken cinznhören und zu erwägen willig sind. Gewiß ist es ein Zeichen wirklicher Einsicht in die drängenden Fragen der Zeit, wenn Kaiser Wilhelm mit aller Energie an die sozialen Schaden hinaugetreten ist, um sie durch eine groß geplante Nesormarbeit zu heilen. Wohl in Zusammenhang damit ist anch die Reform unsers ganzen Schul¬ wesens gedacht. Beides sind aber Fragen, die sich nur lösen lassen unter freiwilliger Beihilfe derer, die die Kosten der Reform zu tragen haben, und hier stehen wir sofort dem wunden Punkte gegenüber, der die Schmerzen unsrer Großindustrie, unsers Großgrundbesitzes und eines sehr namhaften Teiles unsrer Intelligenz gerade in ihren besten Vertretern hervorgerufen hat. Die ins Auge gefaßten Ziele, Herstellung des sozialen Friedens, Besserung der Arbeiter¬ verhältnisse, Vertiefung und Vereinfachung unsrer Schulbildung, werden wohl von jedermann ohne Ausnahme gebilligt, und man ist dem Kaiser dankbar für den Anstoß, den er gegeben und für die Bewegung, die er in Fluß ge¬ bracht hat. Die Bedenken richten sich gegen das Tempo und gegen einen nicht wegzuleugnenden Radikalismus, der die Hindernisse nehmen will, wie ein kühner Reiter den Graben auf der Fuchsjagd. Der alte Spruch Lif äat «mi vno (lire darf nur sehr ausnahmsweise in Fragen des staatlichen Lebeus An¬ wendung finden, und wenn wir auch weit entfernt sind, sür Gesetzesvorlagen das Horazische uaumu prsumwr in ciuuum in Anspruch zu nehmen, so meinen wir doch, daß weder die Sozialreform noch die Schulreform bereits spruchreif seien. Die Arbeiterschutzkvnserenz und die Schulreformkonferenz sind beide gleich wenig populär geworden, gerade in den am meisten in Mitleidenschaft gezogenen Kreisen steht man ihnen mißtrauisch gegenüber. Das ist der eine Grund der Unzufriedenheit: der Sprung ins Unbekannte wird nach der Meinung jener Kreise gethan ohne ausreichende Prüfung der Vorbedingungen seines Gelingens, aber mit der Gewißheit, daß er sich nicht mehr wird zurückthuu lassen. Ein zweiter Grund der Unzufriedenheit liegt in der Unruhe, die durch eine Reihe vou Personnlveränderuugen in der Verwaltung, der Armee und der politischen Leitung des Reiches stattgefunden hat. Wir sind in dieser Be¬ ziehung anspruchsvoller geworden als vielleicht irgend eine andre Nation der Welt. Eine markige und geniale Gestalt wie die des Fürsten Vismarck ver¬ gißt sich nicht; das Bewußtsein der Sicherheit, das der Name Moltke der ge¬ samten Nation gab, und das mit allem Vertrauen auf seinen Nachfolger über¬ tragen wurde, kann gleichfalls uicht ersetzt werden. Die Verfassung des Reiches und die Organisation der Armee schien auf deu Körper dieser geistigen Niesen zugeschnitten zu sein. Heute, wo wir ihre feste Hand am Unter und am Steuer des Staates nicht mehr sehen, regt sich der Zweifel, ob die Kraft der Ersatzmänner ausreichen werde, das Schiff durch Wind nud Wellen zu leite».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/394>, abgerufen am 19.05.2024.