Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Rudolf Mdebrands Aufsätze und vortrage Die Wahnvorstellung von dem natürlichen Gegensatze zwischen Schule und Rudolf Mdebrands Aufsätze und vortrage Die Wahnvorstellung von dem natürlichen Gegensatze zwischen Schule und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210018"/> <fw type="header" place="top"> Rudolf Mdebrands Aufsätze und vortrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_394" prev="#ID_393" next="#ID_395"> Die Wahnvorstellung von dem natürlichen Gegensatze zwischen Schule und<lb/> Leben ist uralt und treibt noch heute auch in den Köpfen sonst tüchtiger<lb/> Männer ihr Wesen, trotz des längst trivial gewordenen Satzes: Mu 8olwlg.<z,<lb/> seel vitg.6. Es ist, als wäre die Schule eifersüchtig auf ihre selbständige<lb/> Stellung gegenüber dem Alltäglichen, als müßte sie sich vor allem hüten vor<lb/> unvorsichtigen Zugeständnissen. Wir wollen aber doch nicht vergessen, daß<lb/> Ausgangspunkt und Ziele der Schule mitten im Leben stehen, der höhern wie<lb/> der niedern. Es müßte eine verhängnisvolle Verirrung genannt werden, wenn<lb/> die Schule je ihren Zöglingen mit Bewußtsein und Absicht etwas zu bieten<lb/> wagte, was das Leben weder zu fördern noch zu verschönen imstande wäre.<lb/> Anders steht es um das Verhältnis der Schule zur Wissenschaft. Mag sein,<lb/> daß die Entwicklung der heutigen Forschung, die jetzt mehr als in ihrem<lb/> Jugendalter auf Einzelarbeit angewiesen ist und darum für die äußere Betrach¬<lb/> tung vielleicht vielfach des „großen Zuges" entbehrt, nicht immer heilsam ans die<lb/> Gestaltung unsers Schulwesens eingewirkt hat. Aber das eine kann man much<lb/> getrost behaupten: gerade die vielleicht berechtigte Scheu vor dem Spezialisten¬<lb/> tum in der Schule führt die Gefahr mit sich, die gesunde und notwendige Be¬<lb/> fruchtung des zu verarbeitenden Lehr- und Lernstoffes dnrch den lebendigen Quell<lb/> der Forschung zu verhindern oder doch zu erschweren. Das gilt ganz besonders<lb/> von der sogenannten Germanistik. War es im Grunde etwas andres als diese<lb/> Furcht, die die preußische Unterrichtsverwaltung zu dem unbegreiflichen Schritte<lb/> führte, das Mittelhochdeutsche vou dem Lehrplaue der höhern Schulen ganz<lb/> auszuschließen? Was die Wissenschaft in der Schule zu thun hat, das kann<lb/> man allerdings von Hildebrnud gründlich lernen, und es wäre nur dringend<lb/> zu wünschen, daß sich auch die ungläubigen Gemüter bei ihm Belehrung<lb/> suchen möchten, die immer noch allerlei abenteuerliche Vorstellungen mit sich<lb/> herumtragen von dein Unheil, das die Germanistik in der Schule anrichten<lb/> könnte. Niemand kämpft eifriger als Hildebrand gegen Belastung der Schiller<lb/> mit totem. Wissensstoff; am wenigsten sind gerade die deutschen Stunde» zu<lb/> unfruchtbarem Notizensammeln geeignet. Hier soll und kann alles Leben,<lb/> frisches, freudiges Leben sein, denn in der lebendigen Gegenwart liegt die<lb/> ganze Aufgabe dieses Unterrichts, auf die Gegenwart, uns unser heutiges<lb/> Deutsch führt alle Arbeit hin, auch die Beschäftigung mit der ältern Sprache.<lb/> „Da jeder kleine Deutsche seine Sprache in die Schule schon mitbringt in<lb/> Form einer selbstgewachsenen Pflanzung, die in und aus dem Leben in ihn<lb/> gepflanzt und eben daher im Wachsen ist, so fällt dem Lehrer die Aufgabe<lb/> des Gärtners zu, der in der wildwachsenden Pflanzung zuerst Ordnung, dann<lb/> auch Nutzbarkeit und womöglich Schönheit herzustellen hat." Zu solchem<lb/> Geschäfte sind freilich keine Ignoranten zu gebrauchen. Wer in Hildebrands<lb/> Sinne deutschen Unterricht erteilen will, der muß sich selbst da zu Hause fühlen,<lb/> wo er es seinen Schülern heimisch machen soll, darum kann er eine gründliche</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0151]
Rudolf Mdebrands Aufsätze und vortrage
Die Wahnvorstellung von dem natürlichen Gegensatze zwischen Schule und
Leben ist uralt und treibt noch heute auch in den Köpfen sonst tüchtiger
Männer ihr Wesen, trotz des längst trivial gewordenen Satzes: Mu 8olwlg.<z,
seel vitg.6. Es ist, als wäre die Schule eifersüchtig auf ihre selbständige
Stellung gegenüber dem Alltäglichen, als müßte sie sich vor allem hüten vor
unvorsichtigen Zugeständnissen. Wir wollen aber doch nicht vergessen, daß
Ausgangspunkt und Ziele der Schule mitten im Leben stehen, der höhern wie
der niedern. Es müßte eine verhängnisvolle Verirrung genannt werden, wenn
die Schule je ihren Zöglingen mit Bewußtsein und Absicht etwas zu bieten
wagte, was das Leben weder zu fördern noch zu verschönen imstande wäre.
Anders steht es um das Verhältnis der Schule zur Wissenschaft. Mag sein,
daß die Entwicklung der heutigen Forschung, die jetzt mehr als in ihrem
Jugendalter auf Einzelarbeit angewiesen ist und darum für die äußere Betrach¬
tung vielleicht vielfach des „großen Zuges" entbehrt, nicht immer heilsam ans die
Gestaltung unsers Schulwesens eingewirkt hat. Aber das eine kann man much
getrost behaupten: gerade die vielleicht berechtigte Scheu vor dem Spezialisten¬
tum in der Schule führt die Gefahr mit sich, die gesunde und notwendige Be¬
fruchtung des zu verarbeitenden Lehr- und Lernstoffes dnrch den lebendigen Quell
der Forschung zu verhindern oder doch zu erschweren. Das gilt ganz besonders
von der sogenannten Germanistik. War es im Grunde etwas andres als diese
Furcht, die die preußische Unterrichtsverwaltung zu dem unbegreiflichen Schritte
führte, das Mittelhochdeutsche vou dem Lehrplaue der höhern Schulen ganz
auszuschließen? Was die Wissenschaft in der Schule zu thun hat, das kann
man allerdings von Hildebrnud gründlich lernen, und es wäre nur dringend
zu wünschen, daß sich auch die ungläubigen Gemüter bei ihm Belehrung
suchen möchten, die immer noch allerlei abenteuerliche Vorstellungen mit sich
herumtragen von dein Unheil, das die Germanistik in der Schule anrichten
könnte. Niemand kämpft eifriger als Hildebrand gegen Belastung der Schiller
mit totem. Wissensstoff; am wenigsten sind gerade die deutschen Stunde» zu
unfruchtbarem Notizensammeln geeignet. Hier soll und kann alles Leben,
frisches, freudiges Leben sein, denn in der lebendigen Gegenwart liegt die
ganze Aufgabe dieses Unterrichts, auf die Gegenwart, uns unser heutiges
Deutsch führt alle Arbeit hin, auch die Beschäftigung mit der ältern Sprache.
„Da jeder kleine Deutsche seine Sprache in die Schule schon mitbringt in
Form einer selbstgewachsenen Pflanzung, die in und aus dem Leben in ihn
gepflanzt und eben daher im Wachsen ist, so fällt dem Lehrer die Aufgabe
des Gärtners zu, der in der wildwachsenden Pflanzung zuerst Ordnung, dann
auch Nutzbarkeit und womöglich Schönheit herzustellen hat." Zu solchem
Geschäfte sind freilich keine Ignoranten zu gebrauchen. Wer in Hildebrands
Sinne deutschen Unterricht erteilen will, der muß sich selbst da zu Hause fühlen,
wo er es seinen Schülern heimisch machen soll, darum kann er eine gründliche
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