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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Man spricht heute, besonders den Fremdwörtern gegenüber, viel davon, daß
unsre Schriftsprache durch die Dialekte aufgefrischt werden müsse. Immer zu,
frischt nur auf! Aber wo nichts aufzufrischen ist, da vergreife man sich nicht an
dem, was wir haben.




Litteratur
Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Eine praktische Studie von
Paul Göhre, Kandidaten der Theologie, Generalsekretär des evangelisch-sozialen Kongresses
in Berlin. Erstes bis zehntes'Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1891

Wie die Kluft zwischen Reich und Arm, d. h. heutzutage ziemlich so viel
wie zwischen den höhern Ständen und den Arbeitern?, überbrückt werden könne,
darüber ist schon unendlich viel hin und her geschrieben worden. Ein vom echten
Geiste des Evangeliums beseelter junger Theologe hat die schwierige Aufgabe am
richtigen Ende angegriffen und den im Grnnde genommen einzig richtigen Weg
beschritten: er ist selbst auf einige Monate Fabrikarbeiter geworden. Er hat da¬
durch nicht allein einen Grad der Vertraulichkeit mit den Arbeitern erreicht, den
Angehörige der höhern Stände auf andre Weise schlechterdings nicht erreichen
können, sondern er hat sich mich, indem er ihr Los in allen Stucken teilte, ganz
und gar in ihre Lage versetzt und volles Verständnis für ihre Freuden und Leiden,
für ihr Denken und Empfinden, für ihr Lieben und Hassen, für ihre Hoffnungen,
Wünsche und Befürchtungen gewonnen. Vieles hat er durchaus anders gesunden,
als er es selbst erwartet hatte, und die Leser des merkwürdigen Buches,' in dem
er seine Erfahrungen mitteilt, nachdem einiges wenige davon schon vorigen Herbst
in der "Christlichen Welt" veröffentlicht worden war, werden beim Blick in diese
ihnen völlig neue Welt nicht weniger überrascht sein, als er es selbst gewesen ist.
Was will neben dieser frischen Glaubens- und Liebesthat des evangelischem Kandi¬
daten die zwar gut gemeinte, aber rein akademische und langatmige Abhandlung
des römischen Papstes bedeuten? Es ihm nachzumachen, das wird zwar auch
unter den Evangelischen nicht leicht einer wagen, und von Hunderten, die vielleicht
den Mut dazu hätten, würde neunuudneunzigen das Geschick und die Ausdauer
fehlen. Aber wenigstens steht jetzt jedem, der sich mit der Arbeiterfrage beschäftigen
will oder von Berufs wegen beschäftigen muß, in Göhres Buch eine lautere Quelle
völlig unparteiischer Belehrung zur Verfügung. Die unerschrockene Wahrheitsliebe,
mit der Göhre alles, was er gehört und gesehen hat, ungeschminkt und ungeschwcirzt
mitteilt, mag einiges davon gewissen sorglich gehegten Vorurteilen auch noch so
scharf widersprechen, ist nicht geringerer Anerkennung wert, als sein Wagnis selbst.
Die Auffassung des Verhältnisses der Kirche zur Sozialdemokratie, zu der er in der
Schlußbetrachtung gelangt, wird nicht von allen Lesern geteilt werden, auch von
solchen uicht, die er im übrigen überzeugt, aber beachtenswert bleibt sie trotzdem.
Höchst gespannt darauf darf man sein, welchen Eindrnck die Schrift in den Kreisen
der sozialdemokratischen Arbeiterkreise machen wird, in den Kreisen "seiner Arbeits-
genossen," denen der Verfasser das Buch gewidmet hat.


Litteratur

Man spricht heute, besonders den Fremdwörtern gegenüber, viel davon, daß
unsre Schriftsprache durch die Dialekte aufgefrischt werden müsse. Immer zu,
frischt nur auf! Aber wo nichts aufzufrischen ist, da vergreife man sich nicht an
dem, was wir haben.




Litteratur
Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Eine praktische Studie von
Paul Göhre, Kandidaten der Theologie, Generalsekretär des evangelisch-sozialen Kongresses
in Berlin. Erstes bis zehntes'Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1891

Wie die Kluft zwischen Reich und Arm, d. h. heutzutage ziemlich so viel
wie zwischen den höhern Ständen und den Arbeitern?, überbrückt werden könne,
darüber ist schon unendlich viel hin und her geschrieben worden. Ein vom echten
Geiste des Evangeliums beseelter junger Theologe hat die schwierige Aufgabe am
richtigen Ende angegriffen und den im Grnnde genommen einzig richtigen Weg
beschritten: er ist selbst auf einige Monate Fabrikarbeiter geworden. Er hat da¬
durch nicht allein einen Grad der Vertraulichkeit mit den Arbeitern erreicht, den
Angehörige der höhern Stände auf andre Weise schlechterdings nicht erreichen
können, sondern er hat sich mich, indem er ihr Los in allen Stucken teilte, ganz
und gar in ihre Lage versetzt und volles Verständnis für ihre Freuden und Leiden,
für ihr Denken und Empfinden, für ihr Lieben und Hassen, für ihre Hoffnungen,
Wünsche und Befürchtungen gewonnen. Vieles hat er durchaus anders gesunden,
als er es selbst erwartet hatte, und die Leser des merkwürdigen Buches,' in dem
er seine Erfahrungen mitteilt, nachdem einiges wenige davon schon vorigen Herbst
in der „Christlichen Welt" veröffentlicht worden war, werden beim Blick in diese
ihnen völlig neue Welt nicht weniger überrascht sein, als er es selbst gewesen ist.
Was will neben dieser frischen Glaubens- und Liebesthat des evangelischem Kandi¬
daten die zwar gut gemeinte, aber rein akademische und langatmige Abhandlung
des römischen Papstes bedeuten? Es ihm nachzumachen, das wird zwar auch
unter den Evangelischen nicht leicht einer wagen, und von Hunderten, die vielleicht
den Mut dazu hätten, würde neunuudneunzigen das Geschick und die Ausdauer
fehlen. Aber wenigstens steht jetzt jedem, der sich mit der Arbeiterfrage beschäftigen
will oder von Berufs wegen beschäftigen muß, in Göhres Buch eine lautere Quelle
völlig unparteiischer Belehrung zur Verfügung. Die unerschrockene Wahrheitsliebe,
mit der Göhre alles, was er gehört und gesehen hat, ungeschminkt und ungeschwcirzt
mitteilt, mag einiges davon gewissen sorglich gehegten Vorurteilen auch noch so
scharf widersprechen, ist nicht geringerer Anerkennung wert, als sein Wagnis selbst.
Die Auffassung des Verhältnisses der Kirche zur Sozialdemokratie, zu der er in der
Schlußbetrachtung gelangt, wird nicht von allen Lesern geteilt werden, auch von
solchen uicht, die er im übrigen überzeugt, aber beachtenswert bleibt sie trotzdem.
Höchst gespannt darauf darf man sein, welchen Eindrnck die Schrift in den Kreisen
der sozialdemokratischen Arbeiterkreise machen wird, in den Kreisen „seiner Arbeits-
genossen," denen der Verfasser das Buch gewidmet hat.


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[0545] Litteratur Man spricht heute, besonders den Fremdwörtern gegenüber, viel davon, daß unsre Schriftsprache durch die Dialekte aufgefrischt werden müsse. Immer zu, frischt nur auf! Aber wo nichts aufzufrischen ist, da vergreife man sich nicht an dem, was wir haben. Litteratur Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Eine praktische Studie von Paul Göhre, Kandidaten der Theologie, Generalsekretär des evangelisch-sozialen Kongresses in Berlin. Erstes bis zehntes'Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1891 Wie die Kluft zwischen Reich und Arm, d. h. heutzutage ziemlich so viel wie zwischen den höhern Ständen und den Arbeitern?, überbrückt werden könne, darüber ist schon unendlich viel hin und her geschrieben worden. Ein vom echten Geiste des Evangeliums beseelter junger Theologe hat die schwierige Aufgabe am richtigen Ende angegriffen und den im Grnnde genommen einzig richtigen Weg beschritten: er ist selbst auf einige Monate Fabrikarbeiter geworden. Er hat da¬ durch nicht allein einen Grad der Vertraulichkeit mit den Arbeitern erreicht, den Angehörige der höhern Stände auf andre Weise schlechterdings nicht erreichen können, sondern er hat sich mich, indem er ihr Los in allen Stucken teilte, ganz und gar in ihre Lage versetzt und volles Verständnis für ihre Freuden und Leiden, für ihr Denken und Empfinden, für ihr Lieben und Hassen, für ihre Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen gewonnen. Vieles hat er durchaus anders gesunden, als er es selbst erwartet hatte, und die Leser des merkwürdigen Buches,' in dem er seine Erfahrungen mitteilt, nachdem einiges wenige davon schon vorigen Herbst in der „Christlichen Welt" veröffentlicht worden war, werden beim Blick in diese ihnen völlig neue Welt nicht weniger überrascht sein, als er es selbst gewesen ist. Was will neben dieser frischen Glaubens- und Liebesthat des evangelischem Kandi¬ daten die zwar gut gemeinte, aber rein akademische und langatmige Abhandlung des römischen Papstes bedeuten? Es ihm nachzumachen, das wird zwar auch unter den Evangelischen nicht leicht einer wagen, und von Hunderten, die vielleicht den Mut dazu hätten, würde neunuudneunzigen das Geschick und die Ausdauer fehlen. Aber wenigstens steht jetzt jedem, der sich mit der Arbeiterfrage beschäftigen will oder von Berufs wegen beschäftigen muß, in Göhres Buch eine lautere Quelle völlig unparteiischer Belehrung zur Verfügung. Die unerschrockene Wahrheitsliebe, mit der Göhre alles, was er gehört und gesehen hat, ungeschminkt und ungeschwcirzt mitteilt, mag einiges davon gewissen sorglich gehegten Vorurteilen auch noch so scharf widersprechen, ist nicht geringerer Anerkennung wert, als sein Wagnis selbst. Die Auffassung des Verhältnisses der Kirche zur Sozialdemokratie, zu der er in der Schlußbetrachtung gelangt, wird nicht von allen Lesern geteilt werden, auch von solchen uicht, die er im übrigen überzeugt, aber beachtenswert bleibt sie trotzdem. Höchst gespannt darauf darf man sein, welchen Eindrnck die Schrift in den Kreisen der sozialdemokratischen Arbeiterkreise machen wird, in den Kreisen „seiner Arbeits- genossen," denen der Verfasser das Buch gewidmet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/545>, abgerufen am 21.05.2024.