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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur sozialen Frage

geführt; neue Aufgaben haben vielmehr aufs neue zur Vermehrung der Arbeits¬
kräfte genötigt, während man sie vermindern zu können geglaubt hatte. Und
wie die Budgets der Staaten und der Gemeinden anschwellen, so steigen die
Steuern aller Arten, und viele Steuerpflichtige mögen -- ganz abgesehen von
der Grundsteuer, deren Charakter als Steuer sich bestreiten läßt -- zehn bis
fünfzehn Prozent ihres Einkommens der Öffentlichkeit darbringen.

Wenn man sich fragt, wodurch diese Vermehrung der Geschäfte und diese
Steigerung der Steuern im Laufe der letzten Jahrzehnte hervorgerufen worden
ist, so kann die Antwort nur dahin lauten, daß die Ursache teils in größern
Ansprüchen des Publikums und einer höhern Auffassung von den Aufgaben
des Staates und der kommunalen Verbände zu suchen ist, teils aber in der
Notwendigkeit, schreiende Übelstände, die in die Erscheinung getreten sind, zu
beseitigen oder abzuwehren. In manchen Einrichtungen treffen beide Ursachen
zusammen. Die Pflege der Wissenschaften und der Künste, die reiche Aus¬
stattung vieler Anstalten mit allen Hilfsmitteln, die die Neuzeit erdacht oder
aufgefunden hat, gehören dem Bestreben an, alle Kulturaufgaben anzufassen
und zu übernehmen. Wenn aber jetzt Irrenhäuser, Taubstummenanstalten u. s. w.
in einer Weise hergestellt werden, die allen, auch deu weitgehendsten Forde¬
rungen genügt, so kommen die beiden Rücksichten des Strebens nach höchster
Vollendung des in Angriff genommenen und der Abwendung trauriger Zu¬
stände zusammen. Blicken wir anf das umfassende Gebiet der neuen Ver-
sicheruugsgesetzgebuug, so handelt es sich dabei lediglich darum, Notständen
vorzubeugen. Bei genauerer Erforschung der Verhältnisse wird sich aber
zeigen, daß bei weitem das größere Maß der aufgewandten Kräfte und Geld¬
mittel der öffentlichen Verwaltung dem Zwecke dient, die Not des Lebens
der Massen abzuwenden und die aus der Armut entstehenden Übelstände zu
beseitigen.

Mau könnte sich vielleicht der Meinung hingeben, daß die ungeheuern
Summen, die das Militär verschlingt, bei dieser Betrachtung ausgeschlossen
bleiben müßten, indem sie doch nur dem Zwecke dienten, dem Reiche Sicher¬
heit nach außen wie nach innen zu verschaffen. Aber es wird sich wohl nicht
bezweifeln lassen, daß die Kriege kaum noch möglich sein würden, wenn hüben
und drüben die Wohlstandsverhältnisse der Massen besser wären, die Zahl der
Unznsriednen und Mißvergnügten und derer, die nichts zu verlieren haben, nnr
gering wäre. Die große Zahl der Unzufriedneu, die, weil sie nichts zuzusetzen
haben, bei jeder Veränderung gewinnen zu können glauben und hoffen, bildet
den großen Troß derer, die aus Eigennutz und Ehrgeiz zum .Kriege treiben und
Hetzen. Scheu wir auf die Kosten der Justiz, insbesondre der Kriminaljustiz,
der polizeilichen Veranstaltungen, des Schulwesens, des Armenwesens n. s. w.,
so liegt klar zu Tage, wie sehr sie vermindert werden würden, wenn nicht die
Armut das beständige Eingreife" des Staates und der Gemeinden erforderlich


Zur sozialen Frage

geführt; neue Aufgaben haben vielmehr aufs neue zur Vermehrung der Arbeits¬
kräfte genötigt, während man sie vermindern zu können geglaubt hatte. Und
wie die Budgets der Staaten und der Gemeinden anschwellen, so steigen die
Steuern aller Arten, und viele Steuerpflichtige mögen — ganz abgesehen von
der Grundsteuer, deren Charakter als Steuer sich bestreiten läßt — zehn bis
fünfzehn Prozent ihres Einkommens der Öffentlichkeit darbringen.

Wenn man sich fragt, wodurch diese Vermehrung der Geschäfte und diese
Steigerung der Steuern im Laufe der letzten Jahrzehnte hervorgerufen worden
ist, so kann die Antwort nur dahin lauten, daß die Ursache teils in größern
Ansprüchen des Publikums und einer höhern Auffassung von den Aufgaben
des Staates und der kommunalen Verbände zu suchen ist, teils aber in der
Notwendigkeit, schreiende Übelstände, die in die Erscheinung getreten sind, zu
beseitigen oder abzuwehren. In manchen Einrichtungen treffen beide Ursachen
zusammen. Die Pflege der Wissenschaften und der Künste, die reiche Aus¬
stattung vieler Anstalten mit allen Hilfsmitteln, die die Neuzeit erdacht oder
aufgefunden hat, gehören dem Bestreben an, alle Kulturaufgaben anzufassen
und zu übernehmen. Wenn aber jetzt Irrenhäuser, Taubstummenanstalten u. s. w.
in einer Weise hergestellt werden, die allen, auch deu weitgehendsten Forde¬
rungen genügt, so kommen die beiden Rücksichten des Strebens nach höchster
Vollendung des in Angriff genommenen und der Abwendung trauriger Zu¬
stände zusammen. Blicken wir anf das umfassende Gebiet der neuen Ver-
sicheruugsgesetzgebuug, so handelt es sich dabei lediglich darum, Notständen
vorzubeugen. Bei genauerer Erforschung der Verhältnisse wird sich aber
zeigen, daß bei weitem das größere Maß der aufgewandten Kräfte und Geld¬
mittel der öffentlichen Verwaltung dem Zwecke dient, die Not des Lebens
der Massen abzuwenden und die aus der Armut entstehenden Übelstände zu
beseitigen.

Mau könnte sich vielleicht der Meinung hingeben, daß die ungeheuern
Summen, die das Militär verschlingt, bei dieser Betrachtung ausgeschlossen
bleiben müßten, indem sie doch nur dem Zwecke dienten, dem Reiche Sicher¬
heit nach außen wie nach innen zu verschaffen. Aber es wird sich wohl nicht
bezweifeln lassen, daß die Kriege kaum noch möglich sein würden, wenn hüben
und drüben die Wohlstandsverhältnisse der Massen besser wären, die Zahl der
Unznsriednen und Mißvergnügten und derer, die nichts zu verlieren haben, nnr
gering wäre. Die große Zahl der Unzufriedneu, die, weil sie nichts zuzusetzen
haben, bei jeder Veränderung gewinnen zu können glauben und hoffen, bildet
den großen Troß derer, die aus Eigennutz und Ehrgeiz zum .Kriege treiben und
Hetzen. Scheu wir auf die Kosten der Justiz, insbesondre der Kriminaljustiz,
der polizeilichen Veranstaltungen, des Schulwesens, des Armenwesens n. s. w.,
so liegt klar zu Tage, wie sehr sie vermindert werden würden, wenn nicht die
Armut das beständige Eingreife» des Staates und der Gemeinden erforderlich


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[0496] Zur sozialen Frage geführt; neue Aufgaben haben vielmehr aufs neue zur Vermehrung der Arbeits¬ kräfte genötigt, während man sie vermindern zu können geglaubt hatte. Und wie die Budgets der Staaten und der Gemeinden anschwellen, so steigen die Steuern aller Arten, und viele Steuerpflichtige mögen — ganz abgesehen von der Grundsteuer, deren Charakter als Steuer sich bestreiten läßt — zehn bis fünfzehn Prozent ihres Einkommens der Öffentlichkeit darbringen. Wenn man sich fragt, wodurch diese Vermehrung der Geschäfte und diese Steigerung der Steuern im Laufe der letzten Jahrzehnte hervorgerufen worden ist, so kann die Antwort nur dahin lauten, daß die Ursache teils in größern Ansprüchen des Publikums und einer höhern Auffassung von den Aufgaben des Staates und der kommunalen Verbände zu suchen ist, teils aber in der Notwendigkeit, schreiende Übelstände, die in die Erscheinung getreten sind, zu beseitigen oder abzuwehren. In manchen Einrichtungen treffen beide Ursachen zusammen. Die Pflege der Wissenschaften und der Künste, die reiche Aus¬ stattung vieler Anstalten mit allen Hilfsmitteln, die die Neuzeit erdacht oder aufgefunden hat, gehören dem Bestreben an, alle Kulturaufgaben anzufassen und zu übernehmen. Wenn aber jetzt Irrenhäuser, Taubstummenanstalten u. s. w. in einer Weise hergestellt werden, die allen, auch deu weitgehendsten Forde¬ rungen genügt, so kommen die beiden Rücksichten des Strebens nach höchster Vollendung des in Angriff genommenen und der Abwendung trauriger Zu¬ stände zusammen. Blicken wir anf das umfassende Gebiet der neuen Ver- sicheruugsgesetzgebuug, so handelt es sich dabei lediglich darum, Notständen vorzubeugen. Bei genauerer Erforschung der Verhältnisse wird sich aber zeigen, daß bei weitem das größere Maß der aufgewandten Kräfte und Geld¬ mittel der öffentlichen Verwaltung dem Zwecke dient, die Not des Lebens der Massen abzuwenden und die aus der Armut entstehenden Übelstände zu beseitigen. Mau könnte sich vielleicht der Meinung hingeben, daß die ungeheuern Summen, die das Militär verschlingt, bei dieser Betrachtung ausgeschlossen bleiben müßten, indem sie doch nur dem Zwecke dienten, dem Reiche Sicher¬ heit nach außen wie nach innen zu verschaffen. Aber es wird sich wohl nicht bezweifeln lassen, daß die Kriege kaum noch möglich sein würden, wenn hüben und drüben die Wohlstandsverhältnisse der Massen besser wären, die Zahl der Unznsriednen und Mißvergnügten und derer, die nichts zu verlieren haben, nnr gering wäre. Die große Zahl der Unzufriedneu, die, weil sie nichts zuzusetzen haben, bei jeder Veränderung gewinnen zu können glauben und hoffen, bildet den großen Troß derer, die aus Eigennutz und Ehrgeiz zum .Kriege treiben und Hetzen. Scheu wir auf die Kosten der Justiz, insbesondre der Kriminaljustiz, der polizeilichen Veranstaltungen, des Schulwesens, des Armenwesens n. s. w., so liegt klar zu Tage, wie sehr sie vermindert werden würden, wenn nicht die Armut das beständige Eingreife» des Staates und der Gemeinden erforderlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/496>, abgerufen am 18.05.2024.