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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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politische Aussichten

eher Politik zu schreiben ist heute keine Freude, und vielleicht ist
es anch keine Freude, Politik zu macheu. Wenn Graf Caprivi
während der Handelsvertragsdebatten von der Schaffensfreudig¬
keit sprach, die ihn erfülle, so erinnert das an die alte, psycho¬
logische Erfahrung, daß die Vorfreude immer größer ist, als der
erwartete Genuß, und daß die Wirklichkeit immer ein andres Gesicht zeigt,
als das Phantasiebild, das man der Zukunft anzudichten liebt. Die Handels¬
verträge sind da, und wir stehen nicht an, zuzugeben, daß die Thatsache an
sich erfreulich ist. Wir haben die Schwierigkeiten im Sturm genommen, ge¬
nommen "ach der Methode, die General von Steinmetz anzuwenden Pflegte,
wenn ihm der Feind gegenüberstand, ohne viel auf die Opfer zu achten, die
der Sieg kosten mußte. Jetzt, wo der Sieg errungen ist, und wir nun die
Toten bestatten müssen, die ihm zum Opfer gefallen sind, ertönen von allen
Seiten Klagelieder: die Landwirtschaft schreitet im Trauermantel mit der
tragischen Maske einher, die Industriellen berechnen die Ausfälle, die ihnen
bevorstehen, und alles, was Wein baut in Dentschland, lebendigen Wein,
wie er aus deutscheu Traube" quillt, glaubt, daß das Ende aller Tage ge¬
kommen sei. Wer dagegen bei den Verträgen seine Rechnung gefunden hat,
und das mag wohl die ungeheure Mehrzahl gewesen sein, schweigt weislich still.

Es ist so gut wie unmöglich, das wirtschaftliche Für und Wider dieser
Verträge abzuwägen; weder in industriellen noch in landwirtschaftlichen Kreisen
haben wir jemand gefunden, der mit etwas andern, als mit Wahrscheinlich¬
keiten operirt hätte, und auch in Regierungskreisen verhehlt man sich uicht,
daß man einem .L gegenübersteht, für dessen Lösung die Gleichung noch nicht
gefunden ist. Dagegen ist der politische Vorteil mit Händen greifbar. Die


Grenzboten 1 1892 14


politische Aussichten

eher Politik zu schreiben ist heute keine Freude, und vielleicht ist
es anch keine Freude, Politik zu macheu. Wenn Graf Caprivi
während der Handelsvertragsdebatten von der Schaffensfreudig¬
keit sprach, die ihn erfülle, so erinnert das an die alte, psycho¬
logische Erfahrung, daß die Vorfreude immer größer ist, als der
erwartete Genuß, und daß die Wirklichkeit immer ein andres Gesicht zeigt,
als das Phantasiebild, das man der Zukunft anzudichten liebt. Die Handels¬
verträge sind da, und wir stehen nicht an, zuzugeben, daß die Thatsache an
sich erfreulich ist. Wir haben die Schwierigkeiten im Sturm genommen, ge¬
nommen »ach der Methode, die General von Steinmetz anzuwenden Pflegte,
wenn ihm der Feind gegenüberstand, ohne viel auf die Opfer zu achten, die
der Sieg kosten mußte. Jetzt, wo der Sieg errungen ist, und wir nun die
Toten bestatten müssen, die ihm zum Opfer gefallen sind, ertönen von allen
Seiten Klagelieder: die Landwirtschaft schreitet im Trauermantel mit der
tragischen Maske einher, die Industriellen berechnen die Ausfälle, die ihnen
bevorstehen, und alles, was Wein baut in Dentschland, lebendigen Wein,
wie er aus deutscheu Traube» quillt, glaubt, daß das Ende aller Tage ge¬
kommen sei. Wer dagegen bei den Verträgen seine Rechnung gefunden hat,
und das mag wohl die ungeheure Mehrzahl gewesen sein, schweigt weislich still.

Es ist so gut wie unmöglich, das wirtschaftliche Für und Wider dieser
Verträge abzuwägen; weder in industriellen noch in landwirtschaftlichen Kreisen
haben wir jemand gefunden, der mit etwas andern, als mit Wahrscheinlich¬
keiten operirt hätte, und auch in Regierungskreisen verhehlt man sich uicht,
daß man einem .L gegenübersteht, für dessen Lösung die Gleichung noch nicht
gefunden ist. Dagegen ist der politische Vorteil mit Händen greifbar. Die


Grenzboten 1 1892 14
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[0113] [Abbildung] politische Aussichten eher Politik zu schreiben ist heute keine Freude, und vielleicht ist es anch keine Freude, Politik zu macheu. Wenn Graf Caprivi während der Handelsvertragsdebatten von der Schaffensfreudig¬ keit sprach, die ihn erfülle, so erinnert das an die alte, psycho¬ logische Erfahrung, daß die Vorfreude immer größer ist, als der erwartete Genuß, und daß die Wirklichkeit immer ein andres Gesicht zeigt, als das Phantasiebild, das man der Zukunft anzudichten liebt. Die Handels¬ verträge sind da, und wir stehen nicht an, zuzugeben, daß die Thatsache an sich erfreulich ist. Wir haben die Schwierigkeiten im Sturm genommen, ge¬ nommen »ach der Methode, die General von Steinmetz anzuwenden Pflegte, wenn ihm der Feind gegenüberstand, ohne viel auf die Opfer zu achten, die der Sieg kosten mußte. Jetzt, wo der Sieg errungen ist, und wir nun die Toten bestatten müssen, die ihm zum Opfer gefallen sind, ertönen von allen Seiten Klagelieder: die Landwirtschaft schreitet im Trauermantel mit der tragischen Maske einher, die Industriellen berechnen die Ausfälle, die ihnen bevorstehen, und alles, was Wein baut in Dentschland, lebendigen Wein, wie er aus deutscheu Traube» quillt, glaubt, daß das Ende aller Tage ge¬ kommen sei. Wer dagegen bei den Verträgen seine Rechnung gefunden hat, und das mag wohl die ungeheure Mehrzahl gewesen sein, schweigt weislich still. Es ist so gut wie unmöglich, das wirtschaftliche Für und Wider dieser Verträge abzuwägen; weder in industriellen noch in landwirtschaftlichen Kreisen haben wir jemand gefunden, der mit etwas andern, als mit Wahrscheinlich¬ keiten operirt hätte, und auch in Regierungskreisen verhehlt man sich uicht, daß man einem .L gegenübersteht, für dessen Lösung die Gleichung noch nicht gefunden ist. Dagegen ist der politische Vorteil mit Händen greifbar. Die Grenzboten 1 1892 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/113>, abgerufen am 27.05.2024.