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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Meltgeschichte in ^interwinkel

kreisrund, und mit ihrer dichten Hecke und dem sie überschattenden, uralten
Nußbaum, dein einzigen Baum im Hohenloh, bildete sie einen lauschigen
Versteck; besonders jetzt, wo rings um sie her die überreife Saat der
Sichel harrte und sie nun mitten darin lag wie eine vergeßne märchenhafte
Wildnis.

Meine Überraschung bestand in einem mächtigen Stachelbeerbusch voll
blutroter, reifer Veeren. Ich kannte den stachligen Freund schou von frühern
Tagen her und hatte schon manchmal von ihm genascht. Bei seinein Anblick
fühlte ich mich vollends wieder als Kind. Ich machte mich an die Mahlzeit,
und sie ersetzte mir reichlich das Vesperbrot des Fülle"toni.

Nach dem Mahle legte ich mich am Fuße des Nußbaums in dem dicken,
schwarzgrünen Moos des einsamen Steinhügels auf deu Rücken. Meine Angen
sahen dem Spiel zweier Schmetterlinge zu, großer blaßgelber Segelfalter, die,
sich haschend und fliehend, die goldnen Blütendolden hochaufgeschoßuen Johannis¬
krauts umgaukelten.

Und bald kam auch mein Häher wieder uns einen Ast des Nußbaums
geflogen und fing an, mir allerlei vorzuschwatzen.

Und noch ein Schauspiel hatte ich. Ein blaugrauer, schwarzköpfiger
Würger kam ab und zu auf einen Schlehdorn meiner Märchenlande geflogen,
und jedesmal trug er etwas Lebendiges in seinem Schnabel. Er fraß aber
seine Beute nicht, sondern drehte sie in einen Dorn des Schlehenstrauchs, wo
der arme Karabus oder was es sonst sür ein Käfer oder Insekt war, noch
lange schmerzlich die Beine bewegte und mit den Fühlern zuckte. Einmal reckte
ich die Hand aus, einen Stein nach dem Raubvogel zu werfen. Aber ich
unterließ es -- aus Faulheit. Es war zu schön, so ruhig dazuliegen und zu
denken, wie sie da drüben beim Fttllentoni sich plagten, zu schön, so die weite
sonnige Welt umher anzuschauen und auf die geheimen Stimmen und Regungen
in der Einsamkeit zu lauschen.

Einmal glaubte ich gar zu träumen, obwohl ich die Augen groß offen
hielt: ich hörte eine fernher klingende Musik, so reich und schön, so sanft
einschmeichelnd und doch so kühn, wie ich noch nichts gehört zu haben glaubte.
Aber es war mehr als ein Traum. Ich raffte mich empor und hörte die
aufregenden Klänge nun noch lauter und deutlicher, sie kamen immer näher
und klangen immer mehr nach Wirklichkeit.

Bald gewahrte ich denn auch deu Ursprung der berauschenden Klänge.
Drüben, auf der andern Seite des Haselbachthals, von der Schillingsberger
Höhe, vom Sindelwald klangen sie herüber. Ein langer Zug Soldaten, ein
Bataillon oder Regiment, zog dort die Steige gegen Hinterwinkel hinunter
mit klingendem Spiel und fliegende" Fahnen.

Da hie ltmichs keinen Augenblick mehr an meüiem Platz, in kaum einem
halben Viertelstündchen, noch vor den Soldaten, war ich drunten im Dorf.


Meltgeschichte in ^interwinkel

kreisrund, und mit ihrer dichten Hecke und dem sie überschattenden, uralten
Nußbaum, dein einzigen Baum im Hohenloh, bildete sie einen lauschigen
Versteck; besonders jetzt, wo rings um sie her die überreife Saat der
Sichel harrte und sie nun mitten darin lag wie eine vergeßne märchenhafte
Wildnis.

Meine Überraschung bestand in einem mächtigen Stachelbeerbusch voll
blutroter, reifer Veeren. Ich kannte den stachligen Freund schou von frühern
Tagen her und hatte schon manchmal von ihm genascht. Bei seinein Anblick
fühlte ich mich vollends wieder als Kind. Ich machte mich an die Mahlzeit,
und sie ersetzte mir reichlich das Vesperbrot des Fülle»toni.

Nach dem Mahle legte ich mich am Fuße des Nußbaums in dem dicken,
schwarzgrünen Moos des einsamen Steinhügels auf deu Rücken. Meine Angen
sahen dem Spiel zweier Schmetterlinge zu, großer blaßgelber Segelfalter, die,
sich haschend und fliehend, die goldnen Blütendolden hochaufgeschoßuen Johannis¬
krauts umgaukelten.

Und bald kam auch mein Häher wieder uns einen Ast des Nußbaums
geflogen und fing an, mir allerlei vorzuschwatzen.

Und noch ein Schauspiel hatte ich. Ein blaugrauer, schwarzköpfiger
Würger kam ab und zu auf einen Schlehdorn meiner Märchenlande geflogen,
und jedesmal trug er etwas Lebendiges in seinem Schnabel. Er fraß aber
seine Beute nicht, sondern drehte sie in einen Dorn des Schlehenstrauchs, wo
der arme Karabus oder was es sonst sür ein Käfer oder Insekt war, noch
lange schmerzlich die Beine bewegte und mit den Fühlern zuckte. Einmal reckte
ich die Hand aus, einen Stein nach dem Raubvogel zu werfen. Aber ich
unterließ es — aus Faulheit. Es war zu schön, so ruhig dazuliegen und zu
denken, wie sie da drüben beim Fttllentoni sich plagten, zu schön, so die weite
sonnige Welt umher anzuschauen und auf die geheimen Stimmen und Regungen
in der Einsamkeit zu lauschen.

Einmal glaubte ich gar zu träumen, obwohl ich die Augen groß offen
hielt: ich hörte eine fernher klingende Musik, so reich und schön, so sanft
einschmeichelnd und doch so kühn, wie ich noch nichts gehört zu haben glaubte.
Aber es war mehr als ein Traum. Ich raffte mich empor und hörte die
aufregenden Klänge nun noch lauter und deutlicher, sie kamen immer näher
und klangen immer mehr nach Wirklichkeit.

Bald gewahrte ich denn auch deu Ursprung der berauschenden Klänge.
Drüben, auf der andern Seite des Haselbachthals, von der Schillingsberger
Höhe, vom Sindelwald klangen sie herüber. Ein langer Zug Soldaten, ein
Bataillon oder Regiment, zog dort die Steige gegen Hinterwinkel hinunter
mit klingendem Spiel und fliegende» Fahnen.

Da hie ltmichs keinen Augenblick mehr an meüiem Platz, in kaum einem
halben Viertelstündchen, noch vor den Soldaten, war ich drunten im Dorf.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/380>, abgerufen am 18.05.2024.