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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Sprach- und Stammesgenossen, die siebenbürger Sachsen sind, die sich der Abweisung
aussehen, sondern -- die "Romanen" (so!) Siebenbürgens. Der Deutsche gehört
zwar, wie Einsichtige glauben, der einflußreichsten und unentbehrlichsten Knltnr-
nation um, er hat auch dort im Auslande seine Sitten, seinen reformirten Glanben,
seine köstliche niederdeutsche Sprache, seine ehrwürdige altdeutsche Stammesverfassung
mit dem "Graf" an der Spitze jahrhundertelang bewahrt. Aber er opfert alles
ruhig und ohne zu mucksen den verheißungsvoller Ansätzen zum "ungarischen
Globus," wie seine mehr oder minder nationalen Genossen in Pest, die Herren
Myller, Ferenz, Sezonlzkarol, scwarz, Szigmond und Konsorten. Er läßt den
Herrn Obergespan über sich walten, sich in Komitate zerschneiden, lernt "achtzehn
Stunden wöchentlich" pflichtgetreu eine "völlig fremdklingende Sprache," um darin
einmal vor der ungarischen Kommission das juristische (oder vielmehr juridische),
medizinische, theologische Staatsexamen machen zu können. Als Lehrer muß er
von Haus aus wissen, was z. B. sinus und oosinus auf magyarisch heiße u. s. w.
Will sich jemand regen, so mag es der "Romane" thun. Der Deutsche bewährt
uach altem Herkomme" seine nationale Kraft im Kampfe mit sich selbst, ans die da
draußen achtet er immer erst -- Wenns zu spät ist! Nicht einmal den feinen, in
unsrer Schrift angedeuteten Zug hat er, "in passiver Abstinenz zu beharren gegenüber
dem Reichstag in Budapest," wie die Romanen, oder (im Hinblick auf die bal¬
tischen Provinzen sei es hinzugefügt) gegenüber dem Zar in Petersburg, wie die
Polen, oder --. Aber wir wollen nicht fortfahren in der Aufzählung unsrer
nationalen Verluste im Auslande. Wir fänden kein Ende!




Litteratur
Die Moral als Waffe im Kampfe ums Dasein von Dr. Sigmund Exner, Wien,
Tempsky

Dieser Vortrag, in der feierlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften
zu Wien am 30. Mai d. I. gehalten, hebt zunächst mit Befriedigung die Wieder¬
annäherung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft oder, genauer gesagt, zwischen
Psychologie und Physiologie des Gehirns hervor. Daß die Entfremdung zwischen
beiden Wissenszweigen, die so sehr darauf angewiesen sind, gemeinsam zu arbeiten,
im Schwinden begriffen ist. ist allerdings eine erfreuliche Thatsache, und die vor¬
liegende Arbeit ist schon dadurch doppelt erfreulich, daß der Verfasser nicht, wie
manche Naturforscher, glaubt, die Philosophie einfach meistern zu dürfen. Er sucht
wirkliche Verständigung und bemüht sich, von- Standpunkte seiner Wissenschaft aus
Entstehen und Wesen der Sittengesetze zu begründen. Unter stetem Hinweis auf
verwandte Erscheinungen im tierischen Leben findet er, daß der Mensch seine so¬
zialen Empfindungen und somit auch seine Ansichten über gut und böse teils
durch Naturanlage teils durch Vererbung besitzt, aber erst durch die Erziehung,
im weitesten Sinne dieses Wortes, wirklich erwirbt, ferner daß die Moral den
Zweck hat, das Individuum, die unmittelbare Nachkommenschaft und die Gemein-


Litteratur

Sprach- und Stammesgenossen, die siebenbürger Sachsen sind, die sich der Abweisung
aussehen, sondern — die „Romanen" (so!) Siebenbürgens. Der Deutsche gehört
zwar, wie Einsichtige glauben, der einflußreichsten und unentbehrlichsten Knltnr-
nation um, er hat auch dort im Auslande seine Sitten, seinen reformirten Glanben,
seine köstliche niederdeutsche Sprache, seine ehrwürdige altdeutsche Stammesverfassung
mit dem „Graf" an der Spitze jahrhundertelang bewahrt. Aber er opfert alles
ruhig und ohne zu mucksen den verheißungsvoller Ansätzen zum „ungarischen
Globus," wie seine mehr oder minder nationalen Genossen in Pest, die Herren
Myller, Ferenz, Sezonlzkarol, scwarz, Szigmond und Konsorten. Er läßt den
Herrn Obergespan über sich walten, sich in Komitate zerschneiden, lernt „achtzehn
Stunden wöchentlich" pflichtgetreu eine „völlig fremdklingende Sprache," um darin
einmal vor der ungarischen Kommission das juristische (oder vielmehr juridische),
medizinische, theologische Staatsexamen machen zu können. Als Lehrer muß er
von Haus aus wissen, was z. B. sinus und oosinus auf magyarisch heiße u. s. w.
Will sich jemand regen, so mag es der „Romane" thun. Der Deutsche bewährt
uach altem Herkomme» seine nationale Kraft im Kampfe mit sich selbst, ans die da
draußen achtet er immer erst — Wenns zu spät ist! Nicht einmal den feinen, in
unsrer Schrift angedeuteten Zug hat er, „in passiver Abstinenz zu beharren gegenüber
dem Reichstag in Budapest," wie die Romanen, oder (im Hinblick auf die bal¬
tischen Provinzen sei es hinzugefügt) gegenüber dem Zar in Petersburg, wie die
Polen, oder —. Aber wir wollen nicht fortfahren in der Aufzählung unsrer
nationalen Verluste im Auslande. Wir fänden kein Ende!




Litteratur
Die Moral als Waffe im Kampfe ums Dasein von Dr. Sigmund Exner, Wien,
Tempsky

Dieser Vortrag, in der feierlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften
zu Wien am 30. Mai d. I. gehalten, hebt zunächst mit Befriedigung die Wieder¬
annäherung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft oder, genauer gesagt, zwischen
Psychologie und Physiologie des Gehirns hervor. Daß die Entfremdung zwischen
beiden Wissenszweigen, die so sehr darauf angewiesen sind, gemeinsam zu arbeiten,
im Schwinden begriffen ist. ist allerdings eine erfreuliche Thatsache, und die vor¬
liegende Arbeit ist schon dadurch doppelt erfreulich, daß der Verfasser nicht, wie
manche Naturforscher, glaubt, die Philosophie einfach meistern zu dürfen. Er sucht
wirkliche Verständigung und bemüht sich, von- Standpunkte seiner Wissenschaft aus
Entstehen und Wesen der Sittengesetze zu begründen. Unter stetem Hinweis auf
verwandte Erscheinungen im tierischen Leben findet er, daß der Mensch seine so¬
zialen Empfindungen und somit auch seine Ansichten über gut und böse teils
durch Naturanlage teils durch Vererbung besitzt, aber erst durch die Erziehung,
im weitesten Sinne dieses Wortes, wirklich erwirbt, ferner daß die Moral den
Zweck hat, das Individuum, die unmittelbare Nachkommenschaft und die Gemein-


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[0437] Litteratur Sprach- und Stammesgenossen, die siebenbürger Sachsen sind, die sich der Abweisung aussehen, sondern — die „Romanen" (so!) Siebenbürgens. Der Deutsche gehört zwar, wie Einsichtige glauben, der einflußreichsten und unentbehrlichsten Knltnr- nation um, er hat auch dort im Auslande seine Sitten, seinen reformirten Glanben, seine köstliche niederdeutsche Sprache, seine ehrwürdige altdeutsche Stammesverfassung mit dem „Graf" an der Spitze jahrhundertelang bewahrt. Aber er opfert alles ruhig und ohne zu mucksen den verheißungsvoller Ansätzen zum „ungarischen Globus," wie seine mehr oder minder nationalen Genossen in Pest, die Herren Myller, Ferenz, Sezonlzkarol, scwarz, Szigmond und Konsorten. Er läßt den Herrn Obergespan über sich walten, sich in Komitate zerschneiden, lernt „achtzehn Stunden wöchentlich" pflichtgetreu eine „völlig fremdklingende Sprache," um darin einmal vor der ungarischen Kommission das juristische (oder vielmehr juridische), medizinische, theologische Staatsexamen machen zu können. Als Lehrer muß er von Haus aus wissen, was z. B. sinus und oosinus auf magyarisch heiße u. s. w. Will sich jemand regen, so mag es der „Romane" thun. Der Deutsche bewährt uach altem Herkomme» seine nationale Kraft im Kampfe mit sich selbst, ans die da draußen achtet er immer erst — Wenns zu spät ist! Nicht einmal den feinen, in unsrer Schrift angedeuteten Zug hat er, „in passiver Abstinenz zu beharren gegenüber dem Reichstag in Budapest," wie die Romanen, oder (im Hinblick auf die bal¬ tischen Provinzen sei es hinzugefügt) gegenüber dem Zar in Petersburg, wie die Polen, oder —. Aber wir wollen nicht fortfahren in der Aufzählung unsrer nationalen Verluste im Auslande. Wir fänden kein Ende! Litteratur Die Moral als Waffe im Kampfe ums Dasein von Dr. Sigmund Exner, Wien, Tempsky Dieser Vortrag, in der feierlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu Wien am 30. Mai d. I. gehalten, hebt zunächst mit Befriedigung die Wieder¬ annäherung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft oder, genauer gesagt, zwischen Psychologie und Physiologie des Gehirns hervor. Daß die Entfremdung zwischen beiden Wissenszweigen, die so sehr darauf angewiesen sind, gemeinsam zu arbeiten, im Schwinden begriffen ist. ist allerdings eine erfreuliche Thatsache, und die vor¬ liegende Arbeit ist schon dadurch doppelt erfreulich, daß der Verfasser nicht, wie manche Naturforscher, glaubt, die Philosophie einfach meistern zu dürfen. Er sucht wirkliche Verständigung und bemüht sich, von- Standpunkte seiner Wissenschaft aus Entstehen und Wesen der Sittengesetze zu begründen. Unter stetem Hinweis auf verwandte Erscheinungen im tierischen Leben findet er, daß der Mensch seine so¬ zialen Empfindungen und somit auch seine Ansichten über gut und böse teils durch Naturanlage teils durch Vererbung besitzt, aber erst durch die Erziehung, im weitesten Sinne dieses Wortes, wirklich erwirbt, ferner daß die Moral den Zweck hat, das Individuum, die unmittelbare Nachkommenschaft und die Gemein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/437>, abgerufen am 19.05.2024.