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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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man dem einzelnen gegenüber ungerecht. Vor allem aber herrscht völlige Un¬
klarheit über das Recht der Absperrung. Dem Volke will es nicht in den
Kopf, daß es sich von jedermann geduldig in Lebensgefahr bringen lassen soll.
Es nimmt für sich, für das Haus und für die Gemeinde das Recht in An¬
spruch, sich zu schützen; wenn dem das Gesetz der Freizügigkeit entgegenstehe,
so müsse dies Gesetz in Seuchenzeiten außer Kraft treten, gerade so wie gewisse
bürgerliche Gesetze und Rechte in Kriegszeiten außer Kraft treten. Das ist
die Meinung, und sie ist ohne Zweifel berechtigt, wenn die Absperrung über¬
haupt ein wirksames Mittel ist. Wir wollen hier nicht erörtern, ob dies
der Fall ist oder nicht, sicher aber würde folgende gesetzliche Bestimmung von
Wirkung sein: Wer einen als verseucht erklärten Ort verläßt, hat sich beim
Verlassen des Ortes wie an seinem Reiseziele der Sanitätsbehörde zu stellen.
Wer dies unterläßt, wird mit Gefängnis von vierzehn Tagen bis zu drei
Monaten bestraft.

Ein Gesetz, das die Dinge in dieser Weise regelt, ist notwendig. Ebenso
notwendig ist eine angemeßne und zuverlässige Verwaltung. Ob republikanische
Verfassungen geeignet sind, wenn es darauf ankommt, kräftig und einheitlich
vorzugehen und auch einmal an den Geldbeutel oder die Geschäftsinteressen
der Leute zu rühren, darf bezweifelt werden. Man sagt: Kollegien haben
kein Gewissen. Natürlich, denn hier fühlt niemand eine persönliche Verant¬
wortung, aber jeder steht unter dem Einfluß gewisser Sonderinteresfen. Die
patriarchalisch-republikanische Verfassung Hamburgs hat sich der Cholera gegen¬
über nicht bewährt. Jetzt wird man vielleicht zur "Sanirung" der Stadt
das nötige thun, aber man hätte die Stadt nicht in diesen jämmerlichen Zu¬
stand geraten lassen sollen. Wenn in Berlin alles mögliche geschah, die Stadt
mit größter Sorgfalt zu säubern, so sollen den städtischen Behörden nicht
ihre Verdienste bestritten, es soll aber auch nicht vergessen werden, daß das
königliche Polizeipräsidium die eigentliche Arbeit gethan hat. Sicher wäre an
vielen Orten und besonders auf dem flachen Lande nichts geschehen, wenn
nicht der staatliche Zwang hinzugekommen wäre. Wir haben in den letzten
Wochen wieder einmal die menschliche Trägheit und Thorheit in ihrer vollen
Größe bewundern können. Trostgründe, daß man gute Lust und gutes Wasser
habe, daß man bereits im September sei, und daß so etwas wie in Hamburg
anderwärts überhaupt gar nicht vorkommen könne, waren wohlfeil wie Brom¬
beeren. Man hielt es geradeso wie in Hamburg nicht sür nötig, das nötige zu
thun, ehe nicht das Feuer auf den Nägeln brannte. Und alle die schönen in
den Zeitungen veröffentlichten Belehrungen hätten ihren Zweck verfehlt, wenn
nicht der Herr Regierungspräsident kommandirt Hütte. Nun gings gleich.
Wahrlich, wir wollen uns nicht allzusehr rühmen.

Es ist auch nötig, ein jederzeit bereites und sachverständiges Personal
auszubilden. "Peinliche Sauberkeit" wird als Hauptmittel gegen die Cholera


Grenzboten IV 1892 2

man dem einzelnen gegenüber ungerecht. Vor allem aber herrscht völlige Un¬
klarheit über das Recht der Absperrung. Dem Volke will es nicht in den
Kopf, daß es sich von jedermann geduldig in Lebensgefahr bringen lassen soll.
Es nimmt für sich, für das Haus und für die Gemeinde das Recht in An¬
spruch, sich zu schützen; wenn dem das Gesetz der Freizügigkeit entgegenstehe,
so müsse dies Gesetz in Seuchenzeiten außer Kraft treten, gerade so wie gewisse
bürgerliche Gesetze und Rechte in Kriegszeiten außer Kraft treten. Das ist
die Meinung, und sie ist ohne Zweifel berechtigt, wenn die Absperrung über¬
haupt ein wirksames Mittel ist. Wir wollen hier nicht erörtern, ob dies
der Fall ist oder nicht, sicher aber würde folgende gesetzliche Bestimmung von
Wirkung sein: Wer einen als verseucht erklärten Ort verläßt, hat sich beim
Verlassen des Ortes wie an seinem Reiseziele der Sanitätsbehörde zu stellen.
Wer dies unterläßt, wird mit Gefängnis von vierzehn Tagen bis zu drei
Monaten bestraft.

Ein Gesetz, das die Dinge in dieser Weise regelt, ist notwendig. Ebenso
notwendig ist eine angemeßne und zuverlässige Verwaltung. Ob republikanische
Verfassungen geeignet sind, wenn es darauf ankommt, kräftig und einheitlich
vorzugehen und auch einmal an den Geldbeutel oder die Geschäftsinteressen
der Leute zu rühren, darf bezweifelt werden. Man sagt: Kollegien haben
kein Gewissen. Natürlich, denn hier fühlt niemand eine persönliche Verant¬
wortung, aber jeder steht unter dem Einfluß gewisser Sonderinteresfen. Die
patriarchalisch-republikanische Verfassung Hamburgs hat sich der Cholera gegen¬
über nicht bewährt. Jetzt wird man vielleicht zur „Sanirung" der Stadt
das nötige thun, aber man hätte die Stadt nicht in diesen jämmerlichen Zu¬
stand geraten lassen sollen. Wenn in Berlin alles mögliche geschah, die Stadt
mit größter Sorgfalt zu säubern, so sollen den städtischen Behörden nicht
ihre Verdienste bestritten, es soll aber auch nicht vergessen werden, daß das
königliche Polizeipräsidium die eigentliche Arbeit gethan hat. Sicher wäre an
vielen Orten und besonders auf dem flachen Lande nichts geschehen, wenn
nicht der staatliche Zwang hinzugekommen wäre. Wir haben in den letzten
Wochen wieder einmal die menschliche Trägheit und Thorheit in ihrer vollen
Größe bewundern können. Trostgründe, daß man gute Lust und gutes Wasser
habe, daß man bereits im September sei, und daß so etwas wie in Hamburg
anderwärts überhaupt gar nicht vorkommen könne, waren wohlfeil wie Brom¬
beeren. Man hielt es geradeso wie in Hamburg nicht sür nötig, das nötige zu
thun, ehe nicht das Feuer auf den Nägeln brannte. Und alle die schönen in
den Zeitungen veröffentlichten Belehrungen hätten ihren Zweck verfehlt, wenn
nicht der Herr Regierungspräsident kommandirt Hütte. Nun gings gleich.
Wahrlich, wir wollen uns nicht allzusehr rühmen.

Es ist auch nötig, ein jederzeit bereites und sachverständiges Personal
auszubilden. „Peinliche Sauberkeit" wird als Hauptmittel gegen die Cholera


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/17>, abgerufen am 09.05.2024.