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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Das Normale

wünschest, um deines guten Willens willen. Nach tausend Jahren will ich
dich wieder erwecken, und du wirst sehend werden. Mache dich auf und wandre
gen Norden. Nun komme ich vom Norden, wo ich im ewigen Eise vergraben
ein Jahrtausend verträumt habe. Ich durchwandre die Städte und sehe mein
Unrecht. Das Saatkorn der Erkenntnis ist in den zehn Jahrhunderten nicht
aufgegangen. Wie konnte es auch? Ihr habt ihm die nährende Kraft ent¬
zogen und sie auf den Mistbeeten verzettelt, die ihr eure Kultur nennt. Statt der
wogenden erntereifen Halmfelder, die ich im Geiste gesehen hatte, habt ihr Blüten
gezeitigt, deren betäubender Duft eure Sinne schwächt, euern Leichnam ver¬
zärtelt und jeden etwa aufsprießenden gesunden Trieb im Keime erstickt. Die
Entwicklung des Menschengeistes ist in den tausend Jahren vollends aus ihrer
natürlichen, vernünftigen Bahn gelenkt worden. Ihr beurteilt die Souue nach
ihrem Bilde in trüben Pfützen, ihr durchwühlt den Schmutz, um das Schöne zu
suchen. Ans ehernen Pfaden rasen eure Gefährte durch Bergschlünde und über
grausige Tiefen, der Blitz trägt euer Wort in die Ferne und ihr bannt ihn
anch, um eure Nacht zu erhellen. Aber alle diese Werke mers schaffenden
Geistes stehen im Grunde doch nur im Dienste eures Leibes. seidene Pfühle
bereitet ihr diesem; ihr umgeht ihn mit der entnervenden wollüstigen Behag¬
lichkeit, die das Endziel euers Strebens, der Inbegriff euers Glückes ist.
Euern Gott belügt ihr mit prunkvollen Tempeln und euer Gewisse" mit der
prahlenden Münze in der hocherhobnen Hand. Alles wie vor tausend
Jahren, uur daß die Thorheit vielgestaltiger geworden ist. Der Mensch wird
die Wahrheit, die Liebe und Gerechtigkeit nie erfassen, weil er in allem die
Form für das Wesen nimmt. Der Mensch kann die Wahrheit mit seinen
Fingern nicht betasten, ihre Dimensionen nicht feststellen, er kann die Liebe
nicht sehen mit seinen Augen, und für die Gerechtigkeit hat er kein Ohr.
Weil er aber gewisse Triebe fühlt, die er nicht aus seinem Herzen reißen
kann, so formt er -- genau wie vor tausend Jahren -- Götzen nach dem
Maßstabe seiner Erkenntnis. Er setzt das plumpe, fratzenhafte Idol für das
Ideal und spricht: Siehe, das ist die Wahrheit, das die Liebe und jenes
blinde Frauenzimmer die Gerechtigkeit. Ihr erstrebt das Normale, aber es
ist ein Zerrbild des erhabnen Gedankens, den dieses Wort zum Ausdruck
bringt. Eure Normalzeit berechnet ihr nach den Ziffern der Normaluhr auf
jenem prunkenden Kiosk dort drüben, ihr baut Normalhäuser und kleidet
euch in Normalwäsche und Normallkeider. Etwas in euch drängt zum Nor¬
malen, aber seid ihr selbst Normalmenschen? sind die Anschauungen, die euch
leiten, Normalweisheit, ist die Flucht der Erscheinungen, mit denen ihr durch
eure Zeit haftet, Normalleben? Nichts von alledem, Freund! Alles genau
noch wie vor tausend Jahren. Nur ein Ahnen von der Größe jenes Begriffes
geht dnrch eure Zeit, aber ihr vermögt nicht, ihn zu erfassen, zu verwirk¬
lichen; ihr nehmt ihn ebenso kläglich und kleinlich wie das Gvttempfinden


Das Normale

wünschest, um deines guten Willens willen. Nach tausend Jahren will ich
dich wieder erwecken, und du wirst sehend werden. Mache dich auf und wandre
gen Norden. Nun komme ich vom Norden, wo ich im ewigen Eise vergraben
ein Jahrtausend verträumt habe. Ich durchwandre die Städte und sehe mein
Unrecht. Das Saatkorn der Erkenntnis ist in den zehn Jahrhunderten nicht
aufgegangen. Wie konnte es auch? Ihr habt ihm die nährende Kraft ent¬
zogen und sie auf den Mistbeeten verzettelt, die ihr eure Kultur nennt. Statt der
wogenden erntereifen Halmfelder, die ich im Geiste gesehen hatte, habt ihr Blüten
gezeitigt, deren betäubender Duft eure Sinne schwächt, euern Leichnam ver¬
zärtelt und jeden etwa aufsprießenden gesunden Trieb im Keime erstickt. Die
Entwicklung des Menschengeistes ist in den tausend Jahren vollends aus ihrer
natürlichen, vernünftigen Bahn gelenkt worden. Ihr beurteilt die Souue nach
ihrem Bilde in trüben Pfützen, ihr durchwühlt den Schmutz, um das Schöne zu
suchen. Ans ehernen Pfaden rasen eure Gefährte durch Bergschlünde und über
grausige Tiefen, der Blitz trägt euer Wort in die Ferne und ihr bannt ihn
anch, um eure Nacht zu erhellen. Aber alle diese Werke mers schaffenden
Geistes stehen im Grunde doch nur im Dienste eures Leibes. seidene Pfühle
bereitet ihr diesem; ihr umgeht ihn mit der entnervenden wollüstigen Behag¬
lichkeit, die das Endziel euers Strebens, der Inbegriff euers Glückes ist.
Euern Gott belügt ihr mit prunkvollen Tempeln und euer Gewisse» mit der
prahlenden Münze in der hocherhobnen Hand. Alles wie vor tausend
Jahren, uur daß die Thorheit vielgestaltiger geworden ist. Der Mensch wird
die Wahrheit, die Liebe und Gerechtigkeit nie erfassen, weil er in allem die
Form für das Wesen nimmt. Der Mensch kann die Wahrheit mit seinen
Fingern nicht betasten, ihre Dimensionen nicht feststellen, er kann die Liebe
nicht sehen mit seinen Augen, und für die Gerechtigkeit hat er kein Ohr.
Weil er aber gewisse Triebe fühlt, die er nicht aus seinem Herzen reißen
kann, so formt er — genau wie vor tausend Jahren — Götzen nach dem
Maßstabe seiner Erkenntnis. Er setzt das plumpe, fratzenhafte Idol für das
Ideal und spricht: Siehe, das ist die Wahrheit, das die Liebe und jenes
blinde Frauenzimmer die Gerechtigkeit. Ihr erstrebt das Normale, aber es
ist ein Zerrbild des erhabnen Gedankens, den dieses Wort zum Ausdruck
bringt. Eure Normalzeit berechnet ihr nach den Ziffern der Normaluhr auf
jenem prunkenden Kiosk dort drüben, ihr baut Normalhäuser und kleidet
euch in Normalwäsche und Normallkeider. Etwas in euch drängt zum Nor¬
malen, aber seid ihr selbst Normalmenschen? sind die Anschauungen, die euch
leiten, Normalweisheit, ist die Flucht der Erscheinungen, mit denen ihr durch
eure Zeit haftet, Normalleben? Nichts von alledem, Freund! Alles genau
noch wie vor tausend Jahren. Nur ein Ahnen von der Größe jenes Begriffes
geht dnrch eure Zeit, aber ihr vermögt nicht, ihn zu erfassen, zu verwirk¬
lichen; ihr nehmt ihn ebenso kläglich und kleinlich wie das Gvttempfinden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/280>, abgerufen am 08.05.2024.