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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

ihnen gewidmet sein." Als politische Grundrechte bezeichnet er das Recht auf
Freiheit und das auf Gleichheit. Die beiden Namen seien freilich "trotz des
sonoren Klanges" unzweckmäßig gewählt; nachdem sie ihre revolutionäre Auf¬
gabe erfüllt hätten, habe die Wissenschaft festzustellen, daß unter Freiheit und
Gleichheit Selbstbestimmung und Mitbestimmung verstanden werden. "Beide
zusammen sind in der That das volle Recht, insofern jede Beschränkung im
Sclbstbestimmungsrechte wett gemacht wird durch Zuweisung eines Rechts auf
Mitbestimmung über andre." Da wir unsrerseits nicht nach dem Ideal fragen
wollen, sondern nach dem unter den gegebnen Umständen notwendigen und
möglichen, so können wir die sogenannten politischen Grundrechte erst erörtern,
nachdem wir die wirtschaftliche Lage dargestellt haben werden.

Von den beiden wirtschaftlichen Grundrechten ist nach Wolf, und wir
stimmen ihm darin bei, das Recht auf Existenz sowohl seiner Begründung als
seinem Inhalt nach unsicher, während das Recht auf den vollen Arbeitsertrag
wenigstens klar begründet werden kann, wenn auch in vielen Fällen nicht zu
ermitteln ist, worin der volle Arbeitsertrag besteht. In vielen, nicht in allen
Fällen, sagen wir; und diese Korrektur, die wir an Wolfs allgemein gehaltner
These anbringen, ist, wie wir sehen werden, von entscheidender Bedeutung.
Eben der noch unbestimmte Inhalt der beiden wirtschaftlichen Grundrechte,
heißt es weiter, sei der Gegenstand des sozialen Streites, und die Verwirk¬
lichung dieses Inhalts sein Ziel. Indem man aber nach jenem Inhalt forsche,
sehe man sich wieder "auf das Grundproblem der sozialen Ethik zurück¬
geworfen: was ist der Zweck des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sowie der
Lebenszweck des einzelnen?"

Über dieses Gnmdproblem liegen nun, wie weiter ausgeführt wird, zwei
"große Auffassungen" mit einander im Streit, die aristokratische, die einigen
wenigen die Masse opfern will, und die demokratische, die alle einzelnen für
gleichberechtigt hält. Wolf führt eine Anzahl berühmter Vertreter beider
Richtungen an und geht näher auf Nietzsche ein, bei dem der Gegensatz in
ungeheuerlicher Verzerrung als ein Kampf der angeblichen Sklavenmoral gegen
die Herrenmoral erscheint. Daß von unsern beiden großen Dichtern Goethe
der aristokratischen und Schiller der demokratischen Auffassung zuneigte, ist
bekannt. Ein Streit darüber zwischen Treitschke und Schmoller, über den
Wolf berichtet, berührt unsern Gegenstand unmittelbar. Als der sogenannte
Kathedersozialismus hervortrat, bekämpfte ihn Treitschke in der Schrift "Der
Sozialismus und seine Gönner." Treitschkes aristokratische Moral ist freilich
von der Nietzsches himmelweit verschieden, da er die Unterordnung der vielen
unter die wenigen fordert, nicht um der Selbstsucht der Herren zu fröhnen,
sondern weil das Wohl des Ganzen sie fordre. Den großen Talenten müsst
auf Kosten des Lebensgenusses der Masse eine höhere Stellung und reichlicher
Lebensgenuß gesichert werden, damit sie ihre Aufgabe als Kulturerzeuger er-


Weder Kommunismus noch Kapitalismus

ihnen gewidmet sein." Als politische Grundrechte bezeichnet er das Recht auf
Freiheit und das auf Gleichheit. Die beiden Namen seien freilich „trotz des
sonoren Klanges" unzweckmäßig gewählt; nachdem sie ihre revolutionäre Auf¬
gabe erfüllt hätten, habe die Wissenschaft festzustellen, daß unter Freiheit und
Gleichheit Selbstbestimmung und Mitbestimmung verstanden werden. „Beide
zusammen sind in der That das volle Recht, insofern jede Beschränkung im
Sclbstbestimmungsrechte wett gemacht wird durch Zuweisung eines Rechts auf
Mitbestimmung über andre." Da wir unsrerseits nicht nach dem Ideal fragen
wollen, sondern nach dem unter den gegebnen Umständen notwendigen und
möglichen, so können wir die sogenannten politischen Grundrechte erst erörtern,
nachdem wir die wirtschaftliche Lage dargestellt haben werden.

Von den beiden wirtschaftlichen Grundrechten ist nach Wolf, und wir
stimmen ihm darin bei, das Recht auf Existenz sowohl seiner Begründung als
seinem Inhalt nach unsicher, während das Recht auf den vollen Arbeitsertrag
wenigstens klar begründet werden kann, wenn auch in vielen Fällen nicht zu
ermitteln ist, worin der volle Arbeitsertrag besteht. In vielen, nicht in allen
Fällen, sagen wir; und diese Korrektur, die wir an Wolfs allgemein gehaltner
These anbringen, ist, wie wir sehen werden, von entscheidender Bedeutung.
Eben der noch unbestimmte Inhalt der beiden wirtschaftlichen Grundrechte,
heißt es weiter, sei der Gegenstand des sozialen Streites, und die Verwirk¬
lichung dieses Inhalts sein Ziel. Indem man aber nach jenem Inhalt forsche,
sehe man sich wieder „auf das Grundproblem der sozialen Ethik zurück¬
geworfen: was ist der Zweck des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sowie der
Lebenszweck des einzelnen?"

Über dieses Gnmdproblem liegen nun, wie weiter ausgeführt wird, zwei
„große Auffassungen" mit einander im Streit, die aristokratische, die einigen
wenigen die Masse opfern will, und die demokratische, die alle einzelnen für
gleichberechtigt hält. Wolf führt eine Anzahl berühmter Vertreter beider
Richtungen an und geht näher auf Nietzsche ein, bei dem der Gegensatz in
ungeheuerlicher Verzerrung als ein Kampf der angeblichen Sklavenmoral gegen
die Herrenmoral erscheint. Daß von unsern beiden großen Dichtern Goethe
der aristokratischen und Schiller der demokratischen Auffassung zuneigte, ist
bekannt. Ein Streit darüber zwischen Treitschke und Schmoller, über den
Wolf berichtet, berührt unsern Gegenstand unmittelbar. Als der sogenannte
Kathedersozialismus hervortrat, bekämpfte ihn Treitschke in der Schrift „Der
Sozialismus und seine Gönner." Treitschkes aristokratische Moral ist freilich
von der Nietzsches himmelweit verschieden, da er die Unterordnung der vielen
unter die wenigen fordert, nicht um der Selbstsucht der Herren zu fröhnen,
sondern weil das Wohl des Ganzen sie fordre. Den großen Talenten müsst
auf Kosten des Lebensgenusses der Masse eine höhere Stellung und reichlicher
Lebensgenuß gesichert werden, damit sie ihre Aufgabe als Kulturerzeuger er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/310>, abgerufen am 08.05.2024.