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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Zu Goethes Campagne in Frankreich

den Briefen erhalten, zuerst weniger düster und weniger "ahnungsvoll," als
ihn das spätere Werk gewinnen läßt. In dem, was er Christianer schreibt,
mag er sich einige Zurückhaltung auferlegt haben, aber im ganzen wird es der
Wahrheit mehr entsprechen, als die von Anfang an tief dunkle Zeichnung des
Buches. Am Schluß aber ist kein Unterschied mehr; nur daß das, was dreißig
Jahre später mit schonender Abschwächung mehr angedeutet als wirklich ge¬
schildert wurde, hier in so kräftigen Farben aufgetragen ist, daß man sich an
Zolas DebS-cle erinnert fühlt. Auch tritt die praktisch-politische Gesinnung,
die Goethe in jenen Tagen hegte, in den Briefen deutlicher hervor, als in der
spätern Erzählung, die sich in vornehmer Ruhe und Unparteilichkeit harmonisch
fortbewegt. Einen anmutigen Hintergrund zu deu wechselvollen Kriegsbildern,
der dort ganz fehlt, bieten hier die Briefchen an Christiane: wir blicken tief
in die idyllische Häuslichkeit, die Goethe in Weimar genoß.

Die innere Wahrhaftigkeit der "Campagne" aber wird durch die Briefe
nirgends erschüttert, nirgends in Frage gestellt: es bleibt nach wie vor ein
geschichtliches Buch, man kann im großen und ganzen daraus lernen, wie es
wirklich gewesen ist. Es giebt wenig solche Bücher in der neuern Litteratur,
wo Geschichte von miterlebenden Zeitgenossen nur in formlosen Memoiren ge¬
schrieben wird. Goethe selbst hat noch in gleichem Sinne die Belagerung von
Mainz, Gentz die geheime Geschichte des Krieges von 1806 geschrieben; einer
spätern Generation hat Moltke solche Bücher gegeben -- diese allein können
sich mit den herunter Geschichtswerken der Alten vergleichen. Darum begrüßen
wir es auch dankbar, das Chuquet die "Campagne in Frankreich" ganz so wie
die Geschichtswerke der Alten in die Schulen einführen will oder schon ein¬
geführt hat. Seine Ausgabe, zuerst 1884 erschienen, ist vortrefflich. In der
Einleitung und den Noten ist nirgends auch nur ein Hauch vou Chauvinis¬
mus, im Gegenteil: die rückhaltlose Anerkennung nicht nur des Dichters, sondern
auch des Menschen Goethe, wie er sich in diesem Feldzuge zeigt, sowie all der
tüchtigen Elemente, die die preußische Armee selbst damals in ihrem Verfall
noch aufwies, hat uns, wir gestehn es, lebhaft gerührt. Da wo Goethe von
der hie und da bis zum Wahnsinn gesteigerten Wut der Preußen nach der
Rückgabe von Verdun und Lougwy spricht, setzt Chuquet in einer Note hinzu:
<Ü68 ssntiinsnts tont llonnsur n. I'MNkö prusÄsrms. Und er erinnert daran,
wie 1871 ein französischer Soldat nach der Kapitulation von Montrouge, von
gleicher Wut erfüllt, dein Geueral Hartmann mit geballter Faust zurief:
risn ML g,u noir8! -- und wie der General erwiderte: "Mein Freund, wir,
haben keine Lust, über tapfre Leute wie ihr, die ihre Pflicht so gut gethan
haben, zu lachen." Chuquet setzt hinzu: "Erweisen wir den tapfern Preußen,
die unsre Grenze überschritten, dieselbe Huldigung; eine Armee, die im Unglück
dieser wütenden Verzweiflung fähig ist, hat das Recht, Vergeltung zu hoffen.
Ist es nicht Goethe, der gesagt hat: Die Vorsehung hat tausend Mittel, die


Zu Goethes Campagne in Frankreich

den Briefen erhalten, zuerst weniger düster und weniger „ahnungsvoll," als
ihn das spätere Werk gewinnen läßt. In dem, was er Christianer schreibt,
mag er sich einige Zurückhaltung auferlegt haben, aber im ganzen wird es der
Wahrheit mehr entsprechen, als die von Anfang an tief dunkle Zeichnung des
Buches. Am Schluß aber ist kein Unterschied mehr; nur daß das, was dreißig
Jahre später mit schonender Abschwächung mehr angedeutet als wirklich ge¬
schildert wurde, hier in so kräftigen Farben aufgetragen ist, daß man sich an
Zolas DebS-cle erinnert fühlt. Auch tritt die praktisch-politische Gesinnung,
die Goethe in jenen Tagen hegte, in den Briefen deutlicher hervor, als in der
spätern Erzählung, die sich in vornehmer Ruhe und Unparteilichkeit harmonisch
fortbewegt. Einen anmutigen Hintergrund zu deu wechselvollen Kriegsbildern,
der dort ganz fehlt, bieten hier die Briefchen an Christiane: wir blicken tief
in die idyllische Häuslichkeit, die Goethe in Weimar genoß.

Die innere Wahrhaftigkeit der „Campagne" aber wird durch die Briefe
nirgends erschüttert, nirgends in Frage gestellt: es bleibt nach wie vor ein
geschichtliches Buch, man kann im großen und ganzen daraus lernen, wie es
wirklich gewesen ist. Es giebt wenig solche Bücher in der neuern Litteratur,
wo Geschichte von miterlebenden Zeitgenossen nur in formlosen Memoiren ge¬
schrieben wird. Goethe selbst hat noch in gleichem Sinne die Belagerung von
Mainz, Gentz die geheime Geschichte des Krieges von 1806 geschrieben; einer
spätern Generation hat Moltke solche Bücher gegeben — diese allein können
sich mit den herunter Geschichtswerken der Alten vergleichen. Darum begrüßen
wir es auch dankbar, das Chuquet die „Campagne in Frankreich" ganz so wie
die Geschichtswerke der Alten in die Schulen einführen will oder schon ein¬
geführt hat. Seine Ausgabe, zuerst 1884 erschienen, ist vortrefflich. In der
Einleitung und den Noten ist nirgends auch nur ein Hauch vou Chauvinis¬
mus, im Gegenteil: die rückhaltlose Anerkennung nicht nur des Dichters, sondern
auch des Menschen Goethe, wie er sich in diesem Feldzuge zeigt, sowie all der
tüchtigen Elemente, die die preußische Armee selbst damals in ihrem Verfall
noch aufwies, hat uns, wir gestehn es, lebhaft gerührt. Da wo Goethe von
der hie und da bis zum Wahnsinn gesteigerten Wut der Preußen nach der
Rückgabe von Verdun und Lougwy spricht, setzt Chuquet in einer Note hinzu:
<Ü68 ssntiinsnts tont llonnsur n. I'MNkö prusÄsrms. Und er erinnert daran,
wie 1871 ein französischer Soldat nach der Kapitulation von Montrouge, von
gleicher Wut erfüllt, dein Geueral Hartmann mit geballter Faust zurief:
risn ML g,u noir8! — und wie der General erwiderte: „Mein Freund, wir,
haben keine Lust, über tapfre Leute wie ihr, die ihre Pflicht so gut gethan
haben, zu lachen." Chuquet setzt hinzu: „Erweisen wir den tapfern Preußen,
die unsre Grenze überschritten, dieselbe Huldigung; eine Armee, die im Unglück
dieser wütenden Verzweiflung fähig ist, hat das Recht, Vergeltung zu hoffen.
Ist es nicht Goethe, der gesagt hat: Die Vorsehung hat tausend Mittel, die


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[0539] Zu Goethes Campagne in Frankreich den Briefen erhalten, zuerst weniger düster und weniger „ahnungsvoll," als ihn das spätere Werk gewinnen läßt. In dem, was er Christianer schreibt, mag er sich einige Zurückhaltung auferlegt haben, aber im ganzen wird es der Wahrheit mehr entsprechen, als die von Anfang an tief dunkle Zeichnung des Buches. Am Schluß aber ist kein Unterschied mehr; nur daß das, was dreißig Jahre später mit schonender Abschwächung mehr angedeutet als wirklich ge¬ schildert wurde, hier in so kräftigen Farben aufgetragen ist, daß man sich an Zolas DebS-cle erinnert fühlt. Auch tritt die praktisch-politische Gesinnung, die Goethe in jenen Tagen hegte, in den Briefen deutlicher hervor, als in der spätern Erzählung, die sich in vornehmer Ruhe und Unparteilichkeit harmonisch fortbewegt. Einen anmutigen Hintergrund zu deu wechselvollen Kriegsbildern, der dort ganz fehlt, bieten hier die Briefchen an Christiane: wir blicken tief in die idyllische Häuslichkeit, die Goethe in Weimar genoß. Die innere Wahrhaftigkeit der „Campagne" aber wird durch die Briefe nirgends erschüttert, nirgends in Frage gestellt: es bleibt nach wie vor ein geschichtliches Buch, man kann im großen und ganzen daraus lernen, wie es wirklich gewesen ist. Es giebt wenig solche Bücher in der neuern Litteratur, wo Geschichte von miterlebenden Zeitgenossen nur in formlosen Memoiren ge¬ schrieben wird. Goethe selbst hat noch in gleichem Sinne die Belagerung von Mainz, Gentz die geheime Geschichte des Krieges von 1806 geschrieben; einer spätern Generation hat Moltke solche Bücher gegeben — diese allein können sich mit den herunter Geschichtswerken der Alten vergleichen. Darum begrüßen wir es auch dankbar, das Chuquet die „Campagne in Frankreich" ganz so wie die Geschichtswerke der Alten in die Schulen einführen will oder schon ein¬ geführt hat. Seine Ausgabe, zuerst 1884 erschienen, ist vortrefflich. In der Einleitung und den Noten ist nirgends auch nur ein Hauch vou Chauvinis¬ mus, im Gegenteil: die rückhaltlose Anerkennung nicht nur des Dichters, sondern auch des Menschen Goethe, wie er sich in diesem Feldzuge zeigt, sowie all der tüchtigen Elemente, die die preußische Armee selbst damals in ihrem Verfall noch aufwies, hat uns, wir gestehn es, lebhaft gerührt. Da wo Goethe von der hie und da bis zum Wahnsinn gesteigerten Wut der Preußen nach der Rückgabe von Verdun und Lougwy spricht, setzt Chuquet in einer Note hinzu: <Ü68 ssntiinsnts tont llonnsur n. I'MNkö prusÄsrms. Und er erinnert daran, wie 1871 ein französischer Soldat nach der Kapitulation von Montrouge, von gleicher Wut erfüllt, dein Geueral Hartmann mit geballter Faust zurief: risn ML g,u noir8! — und wie der General erwiderte: „Mein Freund, wir, haben keine Lust, über tapfre Leute wie ihr, die ihre Pflicht so gut gethan haben, zu lachen." Chuquet setzt hinzu: „Erweisen wir den tapfern Preußen, die unsre Grenze überschritten, dieselbe Huldigung; eine Armee, die im Unglück dieser wütenden Verzweiflung fähig ist, hat das Recht, Vergeltung zu hoffen. Ist es nicht Goethe, der gesagt hat: Die Vorsehung hat tausend Mittel, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/539>, abgerufen am 08.05.2024.