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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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rung, daß die Kunst der Zukunft ein Werkzeug der Agitation sein solle und
notwendig werden müsse. "Wirkten nicht zu jeder Zeit die politischen, reli¬
giösen, sozialen Bewegungen ihrer Epoche ^ auf das lebhafteste und nachdrück¬
lichste auf die Künstler ein? In allen Epochen j ! > läßt sich der Einfluß, welchen
die Ideen und Machtfaktoren der Zeit auf die Richtung und Entwicklung der
Kunst übten, nicht bloß nachweisen, sondern in jedem guten literarhistorischen
wie kunstgeschichtlichen Werk wird er seit Jahren auch nachgewiesen." Wer
bestreitet das? Aber was hat der Einfluß der "Epoche" mit dem dürftigen und
engherzigen Fanatismus zu thun, mit dem im Augenblick jede Lebenserschei-
nung, die nicht mit der sozialen Frage und der sozialistischen Agitation zu¬
sammenhängt, für leer und hohl und der künstlerischen Gestaltung für unwert
erklärt wird? Das "Milieu" einer "Epoche" ist doch mehr als eine Macht,
eine Bestrebung, eine Richtung. Der Verfasser wird nicht daran zweifeln, daß
im sechzehnten Jahrhundert in Deutschland die Reformation das alles durch¬
dringende "Milieu" war, wird ebenso wenig zweifeln, daß Hans Sachs der
Dichter war, der der Reformation mit Seele und Sinnen zugehörte, und um
gehe er hin und vergleiche, welche Mannichfaltigkeit, welcher Reichtum bunten
Lebens trotz der allmächtigen Bewegung der Zeit in der Dichtung des Nürn¬
berger Schusters Raum hat. Reich vergißt anch, daß das besagte "Milieu"
auf die einzelnen Naturen grundverschiedne Wirkungen hat. Im siebzehnten
Jahrhundert übte der dreißigjährige Krieg samt der ihm folgenden trostlosen
Zeit den stärksten Einfluß auf die Dichtung. Aber es ist ein andres, ob der ge¬
lehrte Opitz fein frostiges "Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges" nach
fremden Mustern zusammenkünstelt, ein andres, ob Philander von Sittewald
die Greuel des Kriegs photographisch treu spiegelt, und wieder ein andres,
ob sich Paul Gerhardt in Liedern wie "Gott Lob, nun ist erschollen das edle
Fried- und Frendewort" und in dem himmlischen "Befiehl du deine Wege" über
den Jammer und das Elend der Zeit emporschwingt. Im Grunde ists auch
e'ni Jammer und ein Elend, noch so viel Worte um so klare Dinge machen
müssen, und des Rückblicks auf vergangne Jahrhunderte braucht es eben
"und nicht -- in unserm eignen haben wir schon verschiednemale erlebt, daß
fanatische Einseitigkeit die Kunst und Litteratur von dem großen Nährboden des
Gebens abschneiden und sie 'aus einer angeblich allein noch fruchtbaren Ecke
alimentiren wollte. Die jungdeutschen Apostel derzeitgemäßen Prosa, die alles
l'vn der liberalen Parteidoktrin nicht durchtränkte Leben als "Romantik" über
Bord warfen, die politischen Lyriker, die verkündeten, daß fürderhin kein andrer
"mit als der des revolutionären Pathos vom Herzen kommen und zu Herzen
ander werde, sind ans- und niedergetaucht und haben doch jene Bedürfnisse nud
Antriebe der menschlichen Natur, auf denen die lebendige Mannichfaltigkeit der
Kunst beruht, nicht hinweggefegt. Wir leben der guten Zuversicht, daß auch die
Sozialreformer im Sinne des Herrn Reich nicht viel weiter kommen werden.


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rung, daß die Kunst der Zukunft ein Werkzeug der Agitation sein solle und
notwendig werden müsse. „Wirkten nicht zu jeder Zeit die politischen, reli¬
giösen, sozialen Bewegungen ihrer Epoche ^ auf das lebhafteste und nachdrück¬
lichste auf die Künstler ein? In allen Epochen j ! > läßt sich der Einfluß, welchen
die Ideen und Machtfaktoren der Zeit auf die Richtung und Entwicklung der
Kunst übten, nicht bloß nachweisen, sondern in jedem guten literarhistorischen
wie kunstgeschichtlichen Werk wird er seit Jahren auch nachgewiesen." Wer
bestreitet das? Aber was hat der Einfluß der „Epoche" mit dem dürftigen und
engherzigen Fanatismus zu thun, mit dem im Augenblick jede Lebenserschei-
nung, die nicht mit der sozialen Frage und der sozialistischen Agitation zu¬
sammenhängt, für leer und hohl und der künstlerischen Gestaltung für unwert
erklärt wird? Das „Milieu" einer „Epoche" ist doch mehr als eine Macht,
eine Bestrebung, eine Richtung. Der Verfasser wird nicht daran zweifeln, daß
im sechzehnten Jahrhundert in Deutschland die Reformation das alles durch¬
dringende „Milieu" war, wird ebenso wenig zweifeln, daß Hans Sachs der
Dichter war, der der Reformation mit Seele und Sinnen zugehörte, und um
gehe er hin und vergleiche, welche Mannichfaltigkeit, welcher Reichtum bunten
Lebens trotz der allmächtigen Bewegung der Zeit in der Dichtung des Nürn¬
berger Schusters Raum hat. Reich vergißt anch, daß das besagte „Milieu"
auf die einzelnen Naturen grundverschiedne Wirkungen hat. Im siebzehnten
Jahrhundert übte der dreißigjährige Krieg samt der ihm folgenden trostlosen
Zeit den stärksten Einfluß auf die Dichtung. Aber es ist ein andres, ob der ge¬
lehrte Opitz fein frostiges „Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges" nach
fremden Mustern zusammenkünstelt, ein andres, ob Philander von Sittewald
die Greuel des Kriegs photographisch treu spiegelt, und wieder ein andres,
ob sich Paul Gerhardt in Liedern wie „Gott Lob, nun ist erschollen das edle
Fried- und Frendewort" und in dem himmlischen „Befiehl du deine Wege" über
den Jammer und das Elend der Zeit emporschwingt. Im Grunde ists auch
e'ni Jammer und ein Elend, noch so viel Worte um so klare Dinge machen
müssen, und des Rückblicks auf vergangne Jahrhunderte braucht es eben
"und nicht — in unserm eignen haben wir schon verschiednemale erlebt, daß
fanatische Einseitigkeit die Kunst und Litteratur von dem großen Nährboden des
Gebens abschneiden und sie 'aus einer angeblich allein noch fruchtbaren Ecke
alimentiren wollte. Die jungdeutschen Apostel derzeitgemäßen Prosa, die alles
l'vn der liberalen Parteidoktrin nicht durchtränkte Leben als „Romantik" über
Bord warfen, die politischen Lyriker, die verkündeten, daß fürderhin kein andrer
"mit als der des revolutionären Pathos vom Herzen kommen und zu Herzen
ander werde, sind ans- und niedergetaucht und haben doch jene Bedürfnisse nud
Antriebe der menschlichen Natur, auf denen die lebendige Mannichfaltigkeit der
Kunst beruht, nicht hinweggefegt. Wir leben der guten Zuversicht, daß auch die
Sozialreformer im Sinne des Herrn Reich nicht viel weiter kommen werden.


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[0597] ?!MVM Le Cirovnxe» rung, daß die Kunst der Zukunft ein Werkzeug der Agitation sein solle und notwendig werden müsse. „Wirkten nicht zu jeder Zeit die politischen, reli¬ giösen, sozialen Bewegungen ihrer Epoche ^ auf das lebhafteste und nachdrück¬ lichste auf die Künstler ein? In allen Epochen j ! > läßt sich der Einfluß, welchen die Ideen und Machtfaktoren der Zeit auf die Richtung und Entwicklung der Kunst übten, nicht bloß nachweisen, sondern in jedem guten literarhistorischen wie kunstgeschichtlichen Werk wird er seit Jahren auch nachgewiesen." Wer bestreitet das? Aber was hat der Einfluß der „Epoche" mit dem dürftigen und engherzigen Fanatismus zu thun, mit dem im Augenblick jede Lebenserschei- nung, die nicht mit der sozialen Frage und der sozialistischen Agitation zu¬ sammenhängt, für leer und hohl und der künstlerischen Gestaltung für unwert erklärt wird? Das „Milieu" einer „Epoche" ist doch mehr als eine Macht, eine Bestrebung, eine Richtung. Der Verfasser wird nicht daran zweifeln, daß im sechzehnten Jahrhundert in Deutschland die Reformation das alles durch¬ dringende „Milieu" war, wird ebenso wenig zweifeln, daß Hans Sachs der Dichter war, der der Reformation mit Seele und Sinnen zugehörte, und um gehe er hin und vergleiche, welche Mannichfaltigkeit, welcher Reichtum bunten Lebens trotz der allmächtigen Bewegung der Zeit in der Dichtung des Nürn¬ berger Schusters Raum hat. Reich vergißt anch, daß das besagte „Milieu" auf die einzelnen Naturen grundverschiedne Wirkungen hat. Im siebzehnten Jahrhundert übte der dreißigjährige Krieg samt der ihm folgenden trostlosen Zeit den stärksten Einfluß auf die Dichtung. Aber es ist ein andres, ob der ge¬ lehrte Opitz fein frostiges „Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges" nach fremden Mustern zusammenkünstelt, ein andres, ob Philander von Sittewald die Greuel des Kriegs photographisch treu spiegelt, und wieder ein andres, ob sich Paul Gerhardt in Liedern wie „Gott Lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Frendewort" und in dem himmlischen „Befiehl du deine Wege" über den Jammer und das Elend der Zeit emporschwingt. Im Grunde ists auch e'ni Jammer und ein Elend, noch so viel Worte um so klare Dinge machen müssen, und des Rückblicks auf vergangne Jahrhunderte braucht es eben "und nicht — in unserm eignen haben wir schon verschiednemale erlebt, daß fanatische Einseitigkeit die Kunst und Litteratur von dem großen Nährboden des Gebens abschneiden und sie 'aus einer angeblich allein noch fruchtbaren Ecke alimentiren wollte. Die jungdeutschen Apostel derzeitgemäßen Prosa, die alles l'vn der liberalen Parteidoktrin nicht durchtränkte Leben als „Romantik" über Bord warfen, die politischen Lyriker, die verkündeten, daß fürderhin kein andrer "mit als der des revolutionären Pathos vom Herzen kommen und zu Herzen ander werde, sind ans- und niedergetaucht und haben doch jene Bedürfnisse nud Antriebe der menschlichen Natur, auf denen die lebendige Mannichfaltigkeit der Kunst beruht, nicht hinweggefegt. Wir leben der guten Zuversicht, daß auch die Sozialreformer im Sinne des Herrn Reich nicht viel weiter kommen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/597>, abgerufen am 09.05.2024.