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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Wer das schönste Weihnachtsfest feierte

Christnacht an Neros Kopf, während die Stunden verrannen und die Nacht
dahinglitt, bis der Morgen zu dämmern begann.

Da schüttelte ihn wieder ein Frostschauer, er sprang auf, rieb sich die
Augen und blickte verwirrt um sich. Unter den Büschen um Zciuu sah er die
kleine, geschützte Vertiefung, die Nero in den Schnee gegraben hatte; dort
hatten sie zusammen geschlafen, dort hatte ihn Nero gewärmt. Und da stand
nnn Nero in dem leichten Frost des Wintermorgens und leckte ihm Gesicht
und Hände, bis sein Blut wieder in Fluß kam und warm durch die Glieder
rollte. Aber als das geschehen war, sprang er wieder in den Schnee hinein,
bellte und wedelte und rief: Auf, Jakob! Laß uns heimgehen und fröh¬
lich sein!

Aber Jakob hatte keine-Lust dazu, denn in seiner Erinnerung stiegen
dunkle Bilder auf, eins nach dem andern, und redeten von Reichtum und
Glück, die ihn besucht und wieder verlassen hatten, die gekommen und wieder
gegangen waren. Da stand er nnn in der kalten Morgenluft und fühlte,
daß er ein armer, verlassener kleiner Junge war, und das schnürte ihm das
Herz zusammen.

Aber was für Töne erklangen da? Die Glocken der Dorfkirche erhielten
plötzlich Stimme und Sprache und läuteten das Weihnachtsfest ein. In starken
Wogen kamen die Klänge über das Feld zu Jakob hergerollt, drei Schläge,
und dann läutete es, und wieder drei Schläge, und dann läutete es wieder,
und es war, als sängen ihm die Glocken ins Ohr:

Und der Klang der Glocken war so frisch und freudig wie der klare Weihnachts¬
morgen selber.

Da sprangen sie über das Feld hin, Nero voran und Jakob hinterdrein,
als ginge es heim zu Segen und Freude. Und so war es auch.

Niemals hatte ihn die ärmliche kleine Stube so lachend willkommen ge¬
heißen wie jetzt, wo er mit glänzenden Augen und glühenden Wangen eintrat.
Und die Großmutter -- nein, wie gut und lieb sie war! Kein Wort brachte
sie heraus, so freute sie sich über ihn; sie schloß ihn in ihre Arme und preßte
ihn an ihr Herz, und über ihre runzligen Wangen rollten große, warme
Thränen.

Verzeih mir, Großmutter! flüsterte Jakob, denn er schämte sich so sehr,
als er daran dachte, daß er eben noch geglaubt hatte, er sei arm und ver¬
lassen; ich will auch nie wieder von dir gehen.

Aber die Großmutter hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken, sie hatte
alle Hände voll zu thun, sie setzte Jakob feines Weißbrot und Kaffee vor
und Nero eine Schale mit warmer Milch, denn der Erquickung bedurften beide,
und nichts war heute zu gut für sie. Dann nahm sie Jakob bei der Hand
und führte ihn im Triumph durchs Dorf, während Nero bescheiden hinterher
lief, und ein Gesicht nach dem andern sah ihnen nach, und alle nickten ihnen
freundlich zu.

Gott sei Lob und Dank! sagte die Pfarrerin, als sie im Pfarrhause
standen. Und nun that sie wirklich dasselbe, was sie in seinem Traum gethan
hatte: sie nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte ihn. Jetzt


Wer das schönste Weihnachtsfest feierte

Christnacht an Neros Kopf, während die Stunden verrannen und die Nacht
dahinglitt, bis der Morgen zu dämmern begann.

Da schüttelte ihn wieder ein Frostschauer, er sprang auf, rieb sich die
Augen und blickte verwirrt um sich. Unter den Büschen um Zciuu sah er die
kleine, geschützte Vertiefung, die Nero in den Schnee gegraben hatte; dort
hatten sie zusammen geschlafen, dort hatte ihn Nero gewärmt. Und da stand
nnn Nero in dem leichten Frost des Wintermorgens und leckte ihm Gesicht
und Hände, bis sein Blut wieder in Fluß kam und warm durch die Glieder
rollte. Aber als das geschehen war, sprang er wieder in den Schnee hinein,
bellte und wedelte und rief: Auf, Jakob! Laß uns heimgehen und fröh¬
lich sein!

Aber Jakob hatte keine-Lust dazu, denn in seiner Erinnerung stiegen
dunkle Bilder auf, eins nach dem andern, und redeten von Reichtum und
Glück, die ihn besucht und wieder verlassen hatten, die gekommen und wieder
gegangen waren. Da stand er nnn in der kalten Morgenluft und fühlte,
daß er ein armer, verlassener kleiner Junge war, und das schnürte ihm das
Herz zusammen.

Aber was für Töne erklangen da? Die Glocken der Dorfkirche erhielten
plötzlich Stimme und Sprache und läuteten das Weihnachtsfest ein. In starken
Wogen kamen die Klänge über das Feld zu Jakob hergerollt, drei Schläge,
und dann läutete es, und wieder drei Schläge, und dann läutete es wieder,
und es war, als sängen ihm die Glocken ins Ohr:

Und der Klang der Glocken war so frisch und freudig wie der klare Weihnachts¬
morgen selber.

Da sprangen sie über das Feld hin, Nero voran und Jakob hinterdrein,
als ginge es heim zu Segen und Freude. Und so war es auch.

Niemals hatte ihn die ärmliche kleine Stube so lachend willkommen ge¬
heißen wie jetzt, wo er mit glänzenden Augen und glühenden Wangen eintrat.
Und die Großmutter — nein, wie gut und lieb sie war! Kein Wort brachte
sie heraus, so freute sie sich über ihn; sie schloß ihn in ihre Arme und preßte
ihn an ihr Herz, und über ihre runzligen Wangen rollten große, warme
Thränen.

Verzeih mir, Großmutter! flüsterte Jakob, denn er schämte sich so sehr,
als er daran dachte, daß er eben noch geglaubt hatte, er sei arm und ver¬
lassen; ich will auch nie wieder von dir gehen.

Aber die Großmutter hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken, sie hatte
alle Hände voll zu thun, sie setzte Jakob feines Weißbrot und Kaffee vor
und Nero eine Schale mit warmer Milch, denn der Erquickung bedurften beide,
und nichts war heute zu gut für sie. Dann nahm sie Jakob bei der Hand
und führte ihn im Triumph durchs Dorf, während Nero bescheiden hinterher
lief, und ein Gesicht nach dem andern sah ihnen nach, und alle nickten ihnen
freundlich zu.

Gott sei Lob und Dank! sagte die Pfarrerin, als sie im Pfarrhause
standen. Und nun that sie wirklich dasselbe, was sie in seinem Traum gethan
hatte: sie nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte ihn. Jetzt


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[0664] Wer das schönste Weihnachtsfest feierte Christnacht an Neros Kopf, während die Stunden verrannen und die Nacht dahinglitt, bis der Morgen zu dämmern begann. Da schüttelte ihn wieder ein Frostschauer, er sprang auf, rieb sich die Augen und blickte verwirrt um sich. Unter den Büschen um Zciuu sah er die kleine, geschützte Vertiefung, die Nero in den Schnee gegraben hatte; dort hatten sie zusammen geschlafen, dort hatte ihn Nero gewärmt. Und da stand nnn Nero in dem leichten Frost des Wintermorgens und leckte ihm Gesicht und Hände, bis sein Blut wieder in Fluß kam und warm durch die Glieder rollte. Aber als das geschehen war, sprang er wieder in den Schnee hinein, bellte und wedelte und rief: Auf, Jakob! Laß uns heimgehen und fröh¬ lich sein! Aber Jakob hatte keine-Lust dazu, denn in seiner Erinnerung stiegen dunkle Bilder auf, eins nach dem andern, und redeten von Reichtum und Glück, die ihn besucht und wieder verlassen hatten, die gekommen und wieder gegangen waren. Da stand er nnn in der kalten Morgenluft und fühlte, daß er ein armer, verlassener kleiner Junge war, und das schnürte ihm das Herz zusammen. Aber was für Töne erklangen da? Die Glocken der Dorfkirche erhielten plötzlich Stimme und Sprache und läuteten das Weihnachtsfest ein. In starken Wogen kamen die Klänge über das Feld zu Jakob hergerollt, drei Schläge, und dann läutete es, und wieder drei Schläge, und dann läutete es wieder, und es war, als sängen ihm die Glocken ins Ohr: Und der Klang der Glocken war so frisch und freudig wie der klare Weihnachts¬ morgen selber. Da sprangen sie über das Feld hin, Nero voran und Jakob hinterdrein, als ginge es heim zu Segen und Freude. Und so war es auch. Niemals hatte ihn die ärmliche kleine Stube so lachend willkommen ge¬ heißen wie jetzt, wo er mit glänzenden Augen und glühenden Wangen eintrat. Und die Großmutter — nein, wie gut und lieb sie war! Kein Wort brachte sie heraus, so freute sie sich über ihn; sie schloß ihn in ihre Arme und preßte ihn an ihr Herz, und über ihre runzligen Wangen rollten große, warme Thränen. Verzeih mir, Großmutter! flüsterte Jakob, denn er schämte sich so sehr, als er daran dachte, daß er eben noch geglaubt hatte, er sei arm und ver¬ lassen; ich will auch nie wieder von dir gehen. Aber die Großmutter hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken, sie hatte alle Hände voll zu thun, sie setzte Jakob feines Weißbrot und Kaffee vor und Nero eine Schale mit warmer Milch, denn der Erquickung bedurften beide, und nichts war heute zu gut für sie. Dann nahm sie Jakob bei der Hand und führte ihn im Triumph durchs Dorf, während Nero bescheiden hinterher lief, und ein Gesicht nach dem andern sah ihnen nach, und alle nickten ihnen freundlich zu. Gott sei Lob und Dank! sagte die Pfarrerin, als sie im Pfarrhause standen. Und nun that sie wirklich dasselbe, was sie in seinem Traum gethan hatte: sie nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte ihn. Jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/664>, abgerufen am 09.05.2024.