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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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lich auch hier Herr Carnot, dort der Zar sei, keiner von ihnen wird imstande
sein, neutral zik bleiben, sobald der andre kämpft. Wenn wir überhaupt einen
Krieg in den nächsten Jahren haben, so wird es der Zweifrontenkrieg sein --
davon sind wir so sest überzeugt, daß wir es sür einen gewaltigen Fehler
halten würden, wenn man sich bei uns auf eine leichtere Aufgabe einrichten
wollte. So friedliebend, so mächtig auch der Zar sein mag, er ist doch auch
nur ein Mensch unter hundert Millionen andrer Menschen, und die Haltung,
die sein Vater 1870 einnahm, wird er zum andernmale weder wiederholen
wollen noch können. Das ist nicht irgend eine theoretische Meinung, das wird
bewiesen durch alle die fortgesetzten Kriegsrüstungen, die weder Cholera noch
Hunger aufgehalten haben. Auch Rußland hat seine Geschichte und sein Ge¬
schick, dem es folgt und das von persönlichen Neigungen nur in Form und
Ausführung, wenig aber im Wesen abhängt. Und je härter der Grundsatz
"Rußland für die Russen, Deutschland für die Deutschen" in der Politik zur
Geltung gebracht wird, je schärfer Nation gegen Nation gestellt wird, um so
eher rückt der Augenblick heran, wo Russeutum und Deutschtum in Osteuropa
einander Stirn gegen Stirn begegnen werden. Der Grundsatz klingt natür¬
lich, praktisch, den Frieden fördernd; genau genommen ist er doktrinär und
kriegerisch. Wenn er zum Staatsgruudsntz würde, wie müßte er dann etwa
in Osterreich lauten? Und wenn die Türkei nur für die Türken da sein soll,
so hat sich Europa von Lord Byron bis zu Alexander dem Zweiten auf argem
Irrwege befunden mit seiner Sorge um allerlei Rajahstämme. Man möchte
jenen Satz für ein Scherzwort des Fürsten Vismarck halten, wenn nicht leider
aus der Zeit seiner Kanzlerschaft Thatsachen vorlagen, die an den Ernst des
Satzes in gewisser Ausdehnung wenigstens glauben lassen. Es ist ein Grundsatz,
der in der Hand der Russen eine sehr viel gewaltigere und gewaltsamere Be¬
deutung hat, als in der Hand des Deutschen, und bei dessen praktischer An¬
wendung wir Deutschen entschieden zu kurz käme"; denn es ist ein Grundsatz
der rohen Gewalt, die einem Kulturvolk nicht so härtlich ist, als derbern
Naturen. In Rußland hat man sich diesen vom Fürsten Bismarck schon seit
lange vertretnen Satz mit großer Befriedigung zu eigen gemacht, und wenn
in der westlichen Presse Vorwürfe laut werden wegen harter Maßregeln gegen
Deutsche und Polen, gegen Protestanten und Katholiken in Rußland, so weist
der Russe jedesmal auf Fürst Bismarck, auf Elsaß-Lothringen, Posen-West-
preußen hin, als die lobenswerten Vorbilder für jene Maßregeln. Wenn
Preußen, der Kultur- und Musterstaat, ruhig vierzigtausend Leute einfach ver¬
jagen konnte, weil sie angeblich fremde Pole" waren, warum sollte Rußland
nicht eine Million Menschen zur Staatsthür hinauswerfen, weil sie deutschen
Stammes sind? Nußland für die Russen! also hinaus mit Schub die Million
Deutscher, ein paar Millionen Juden dazu, vielleicht zuletzt auch einige Mil¬
lionen Polen. Denn ob diese russische Unterthanen sind, darauf kann es nicht


lich auch hier Herr Carnot, dort der Zar sei, keiner von ihnen wird imstande
sein, neutral zik bleiben, sobald der andre kämpft. Wenn wir überhaupt einen
Krieg in den nächsten Jahren haben, so wird es der Zweifrontenkrieg sein —
davon sind wir so sest überzeugt, daß wir es sür einen gewaltigen Fehler
halten würden, wenn man sich bei uns auf eine leichtere Aufgabe einrichten
wollte. So friedliebend, so mächtig auch der Zar sein mag, er ist doch auch
nur ein Mensch unter hundert Millionen andrer Menschen, und die Haltung,
die sein Vater 1870 einnahm, wird er zum andernmale weder wiederholen
wollen noch können. Das ist nicht irgend eine theoretische Meinung, das wird
bewiesen durch alle die fortgesetzten Kriegsrüstungen, die weder Cholera noch
Hunger aufgehalten haben. Auch Rußland hat seine Geschichte und sein Ge¬
schick, dem es folgt und das von persönlichen Neigungen nur in Form und
Ausführung, wenig aber im Wesen abhängt. Und je härter der Grundsatz
„Rußland für die Russen, Deutschland für die Deutschen" in der Politik zur
Geltung gebracht wird, je schärfer Nation gegen Nation gestellt wird, um so
eher rückt der Augenblick heran, wo Russeutum und Deutschtum in Osteuropa
einander Stirn gegen Stirn begegnen werden. Der Grundsatz klingt natür¬
lich, praktisch, den Frieden fördernd; genau genommen ist er doktrinär und
kriegerisch. Wenn er zum Staatsgruudsntz würde, wie müßte er dann etwa
in Osterreich lauten? Und wenn die Türkei nur für die Türken da sein soll,
so hat sich Europa von Lord Byron bis zu Alexander dem Zweiten auf argem
Irrwege befunden mit seiner Sorge um allerlei Rajahstämme. Man möchte
jenen Satz für ein Scherzwort des Fürsten Vismarck halten, wenn nicht leider
aus der Zeit seiner Kanzlerschaft Thatsachen vorlagen, die an den Ernst des
Satzes in gewisser Ausdehnung wenigstens glauben lassen. Es ist ein Grundsatz,
der in der Hand der Russen eine sehr viel gewaltigere und gewaltsamere Be¬
deutung hat, als in der Hand des Deutschen, und bei dessen praktischer An¬
wendung wir Deutschen entschieden zu kurz käme»; denn es ist ein Grundsatz
der rohen Gewalt, die einem Kulturvolk nicht so härtlich ist, als derbern
Naturen. In Rußland hat man sich diesen vom Fürsten Bismarck schon seit
lange vertretnen Satz mit großer Befriedigung zu eigen gemacht, und wenn
in der westlichen Presse Vorwürfe laut werden wegen harter Maßregeln gegen
Deutsche und Polen, gegen Protestanten und Katholiken in Rußland, so weist
der Russe jedesmal auf Fürst Bismarck, auf Elsaß-Lothringen, Posen-West-
preußen hin, als die lobenswerten Vorbilder für jene Maßregeln. Wenn
Preußen, der Kultur- und Musterstaat, ruhig vierzigtausend Leute einfach ver¬
jagen konnte, weil sie angeblich fremde Pole» waren, warum sollte Rußland
nicht eine Million Menschen zur Staatsthür hinauswerfen, weil sie deutschen
Stammes sind? Nußland für die Russen! also hinaus mit Schub die Million
Deutscher, ein paar Millionen Juden dazu, vielleicht zuletzt auch einige Mil¬
lionen Polen. Denn ob diese russische Unterthanen sind, darauf kann es nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/16>, abgerufen am 13.05.2024.