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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie müßte also eigentlich mit jeder Verstärkung unsrer
Wehrkraft einverstanden sein, denn wenn auch vorläufig noch nicht alle aus¬
nahmslos Soldat werden, so müßte es ihr doch, sollte man denken, recht sein,
daß es möglichst viele werden. Den Vorwurf der "Zahlcnwut," deu ein frei¬
sinniger Reichstagsabgeordneter an eine gewisse Stelle gerichtet hat, könnte
man ebenso gut an die sozialdemokratische Partei richten. Zu wiederholten
malen, denn "die Wiederholung ist ein notwendiges Agitationsmittel," hat
der Vorwärts, das amtliche Organ der Partei, zahlenmäßig auseinandergesetzt,
wieviel "stärker" ein svzialdemvkratisches Deutschland, als das heutige, auch
militärisch werden würde. Nach dem System des Herrn Bebel bekämen wir
die doppelte Anzahl von Soldaten, acht Millionen und darüber, bereit, sich auf
einen das Vaterland angreifenden Feind zu stürzen. Die Sozialdemokratie und
das Zentrum, das für die Windthorstschen Resolutionen eintritt, sind demnach
über die Zahl derer, die dienstpflichtig sein sollen, sehr verschiedner Meinung.

Die jetzige Vorlage geht uun freilich nicht im entferntesten so weit, wie
es die Sozialdemokratie in ihrer Verehrung riesiger Zahlen möchte. Sie will
(nach der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung) "die aus der unvermeidlichen
Ungleichheit und Ungerechtigkeit des jetzigen Verfahrens hervorgehenden Mi߬
stände" beseitigen und sich wieder mehr "dem Gedanken der allgemeinen Wehr¬
pflicht" nähern. Sie will nur die Friedenspräsenzstärke mit der fortgeschrittncn
Bevölkerungszahl mehr als bisher in Einklang bringen. Sie begnügt sich mit
vier bis fünf Millionen Soldaten und verwirklicht nnr zur Hälfte "den Scharn-
horstschen Gedanken" -- H 1 des Scharnhorftschen Entwurfes für die Bil¬
dung einer Reservearmee: "Alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger
desselben."

Allerdings wäre das um soviel größere Heer des sozialdemokratischen
Staats kein "stehendes" Heer, wie wir es gegenwärtig haben, sondern eine so¬
genannte Miliz. "Miliz" ist ein brauchbares Schlagwort, unter dem man ver-
schiednes verstehn kann. Die Sozialdemokratie macht wunderbar positive Vor¬
schläge, wenn sie immer wieder die guten Eigenschaften des Milizsystems preist.
Hätten wir die Miliz, so hätten wir eine unglaublich kurze Dienstzeit (aller¬
dings mit einer langen "militärischen Jugenderziehung"), unglaublich viele
Soldaten, unglaublich geringe Kosten. An der schweizerischen Miliz hat frei¬
lich selbst Herr Bebel einiges auszusetzen; der schweizerische Kavallerist ist der
schwerfälligste Soldat, den er sich denken kann. Die Schweiz kann sich die
Miliz erlauben, sie ist sozusagen neutral, und wenn sie auch mißtrauisch
sein mag, ob bei einem allsbrechenden großen Kriege ihre "ewige" Neutralität
unter allen Umstünden geachtet werden wird, so hat sie doch ganz gewiß
nicht nötig, auf eine schleunige Mobilmachung, die nach Stunden zählt, und
auf eine allzeit bereite Schlagfertigkeit Wert zu legen, mit andern Worten,
sie bedarf keines "stehenden" Heeres.


Die Sozialdemokratie müßte also eigentlich mit jeder Verstärkung unsrer
Wehrkraft einverstanden sein, denn wenn auch vorläufig noch nicht alle aus¬
nahmslos Soldat werden, so müßte es ihr doch, sollte man denken, recht sein,
daß es möglichst viele werden. Den Vorwurf der „Zahlcnwut," deu ein frei¬
sinniger Reichstagsabgeordneter an eine gewisse Stelle gerichtet hat, könnte
man ebenso gut an die sozialdemokratische Partei richten. Zu wiederholten
malen, denn „die Wiederholung ist ein notwendiges Agitationsmittel," hat
der Vorwärts, das amtliche Organ der Partei, zahlenmäßig auseinandergesetzt,
wieviel „stärker" ein svzialdemvkratisches Deutschland, als das heutige, auch
militärisch werden würde. Nach dem System des Herrn Bebel bekämen wir
die doppelte Anzahl von Soldaten, acht Millionen und darüber, bereit, sich auf
einen das Vaterland angreifenden Feind zu stürzen. Die Sozialdemokratie und
das Zentrum, das für die Windthorstschen Resolutionen eintritt, sind demnach
über die Zahl derer, die dienstpflichtig sein sollen, sehr verschiedner Meinung.

Die jetzige Vorlage geht uun freilich nicht im entferntesten so weit, wie
es die Sozialdemokratie in ihrer Verehrung riesiger Zahlen möchte. Sie will
(nach der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung) „die aus der unvermeidlichen
Ungleichheit und Ungerechtigkeit des jetzigen Verfahrens hervorgehenden Mi߬
stände" beseitigen und sich wieder mehr „dem Gedanken der allgemeinen Wehr¬
pflicht" nähern. Sie will nur die Friedenspräsenzstärke mit der fortgeschrittncn
Bevölkerungszahl mehr als bisher in Einklang bringen. Sie begnügt sich mit
vier bis fünf Millionen Soldaten und verwirklicht nnr zur Hälfte „den Scharn-
horstschen Gedanken" — H 1 des Scharnhorftschen Entwurfes für die Bil¬
dung einer Reservearmee: „Alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger
desselben."

Allerdings wäre das um soviel größere Heer des sozialdemokratischen
Staats kein „stehendes" Heer, wie wir es gegenwärtig haben, sondern eine so¬
genannte Miliz. „Miliz" ist ein brauchbares Schlagwort, unter dem man ver-
schiednes verstehn kann. Die Sozialdemokratie macht wunderbar positive Vor¬
schläge, wenn sie immer wieder die guten Eigenschaften des Milizsystems preist.
Hätten wir die Miliz, so hätten wir eine unglaublich kurze Dienstzeit (aller¬
dings mit einer langen „militärischen Jugenderziehung"), unglaublich viele
Soldaten, unglaublich geringe Kosten. An der schweizerischen Miliz hat frei¬
lich selbst Herr Bebel einiges auszusetzen; der schweizerische Kavallerist ist der
schwerfälligste Soldat, den er sich denken kann. Die Schweiz kann sich die
Miliz erlauben, sie ist sozusagen neutral, und wenn sie auch mißtrauisch
sein mag, ob bei einem allsbrechenden großen Kriege ihre „ewige" Neutralität
unter allen Umstünden geachtet werden wird, so hat sie doch ganz gewiß
nicht nötig, auf eine schleunige Mobilmachung, die nach Stunden zählt, und
auf eine allzeit bereite Schlagfertigkeit Wert zu legen, mit andern Worten,
sie bedarf keines „stehenden" Heeres.


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[0164] Die Sozialdemokratie müßte also eigentlich mit jeder Verstärkung unsrer Wehrkraft einverstanden sein, denn wenn auch vorläufig noch nicht alle aus¬ nahmslos Soldat werden, so müßte es ihr doch, sollte man denken, recht sein, daß es möglichst viele werden. Den Vorwurf der „Zahlcnwut," deu ein frei¬ sinniger Reichstagsabgeordneter an eine gewisse Stelle gerichtet hat, könnte man ebenso gut an die sozialdemokratische Partei richten. Zu wiederholten malen, denn „die Wiederholung ist ein notwendiges Agitationsmittel," hat der Vorwärts, das amtliche Organ der Partei, zahlenmäßig auseinandergesetzt, wieviel „stärker" ein svzialdemvkratisches Deutschland, als das heutige, auch militärisch werden würde. Nach dem System des Herrn Bebel bekämen wir die doppelte Anzahl von Soldaten, acht Millionen und darüber, bereit, sich auf einen das Vaterland angreifenden Feind zu stürzen. Die Sozialdemokratie und das Zentrum, das für die Windthorstschen Resolutionen eintritt, sind demnach über die Zahl derer, die dienstpflichtig sein sollen, sehr verschiedner Meinung. Die jetzige Vorlage geht uun freilich nicht im entferntesten so weit, wie es die Sozialdemokratie in ihrer Verehrung riesiger Zahlen möchte. Sie will (nach der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung) „die aus der unvermeidlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit des jetzigen Verfahrens hervorgehenden Mi߬ stände" beseitigen und sich wieder mehr „dem Gedanken der allgemeinen Wehr¬ pflicht" nähern. Sie will nur die Friedenspräsenzstärke mit der fortgeschrittncn Bevölkerungszahl mehr als bisher in Einklang bringen. Sie begnügt sich mit vier bis fünf Millionen Soldaten und verwirklicht nnr zur Hälfte „den Scharn- horstschen Gedanken" — H 1 des Scharnhorftschen Entwurfes für die Bil¬ dung einer Reservearmee: „Alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger desselben." Allerdings wäre das um soviel größere Heer des sozialdemokratischen Staats kein „stehendes" Heer, wie wir es gegenwärtig haben, sondern eine so¬ genannte Miliz. „Miliz" ist ein brauchbares Schlagwort, unter dem man ver- schiednes verstehn kann. Die Sozialdemokratie macht wunderbar positive Vor¬ schläge, wenn sie immer wieder die guten Eigenschaften des Milizsystems preist. Hätten wir die Miliz, so hätten wir eine unglaublich kurze Dienstzeit (aller¬ dings mit einer langen „militärischen Jugenderziehung"), unglaublich viele Soldaten, unglaublich geringe Kosten. An der schweizerischen Miliz hat frei¬ lich selbst Herr Bebel einiges auszusetzen; der schweizerische Kavallerist ist der schwerfälligste Soldat, den er sich denken kann. Die Schweiz kann sich die Miliz erlauben, sie ist sozusagen neutral, und wenn sie auch mißtrauisch sein mag, ob bei einem allsbrechenden großen Kriege ihre „ewige" Neutralität unter allen Umstünden geachtet werden wird, so hat sie doch ganz gewiß nicht nötig, auf eine schleunige Mobilmachung, die nach Stunden zählt, und auf eine allzeit bereite Schlagfertigkeit Wert zu legen, mit andern Worten, sie bedarf keines „stehenden" Heeres.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/164>, abgerufen am 12.05.2024.