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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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in den Augen der Sozialdemokratie, daß der "militärische Geist" im Volke
erhalten bleibt. Die Gewöhnung an eine straffe Zucht und Ordnung, an den
unbedingten Gehorsam, den "Kadavergehorsam," um in ihrer Sprache zu reden,
kurz aller "Drill" ist ihr zuwider, sowohl an sich, als auch besonders, weil
er den Soldaten dem Volke "entfremdet." Durch die längere Dienstzeit, durch
das lange Tragen der Uniform lernt sich der Soldat als solcher fühlen.
Wenn die herrschenden Klassen unsre militärische Erziehung ausgezeichnet
finden, so ist es deshalb, weil sie ihren Interessen zu gute kommt, weil sie
ihnen ihren Besitz, ihr Privateigentum sichert. Die Vorgesetzten mögen aus
das Kunststück stolz sein, das sie jedes Jahr sertig bringen, eine Truppe,
unter der es einen mehr oder minder großen Bruchteil unbehilflicher, schwer¬
fälliger und widerwilliger Leute giebt, zu einer hurtiger, eifrigen und folg¬
samen Gesamtheit zu machen. Die übrigen Völker mögen auf unsre Einrich-
tungen, die sie uicht ohne große Mühe nachahmen tonnen, mit Neid blicken.
Die Sozialdemokratie ist von solcher Bewunderung weit entfernt, und ihre
Presse lauert jahraus jahrein auf Mängel, Versehen, "Fälle," um sie vor
der Öffentlichkeit mit Lärm aufzudecken. Nach einem Aufsatz "Unsre militärische
Erziehung" in der "wissenschaftlichen Revue" der sozialdemokratischen Partei,
der Neuen Zeit, wird bei uns viel zu viel auf die sogenannte körperliche
Ausbildung gesehen, die den Militärdienst geistlos und geisttötend macht; es
wird zwar nicht geradezu verlangt, daß den Soldaten das "Kapital" von
Marx in die Hände gegeben werde (das sie übrigens wie die meisten "Ge¬
nossen" weder lesen noch verstehen würden), aber sie müßten mehr Gelegenheit
und Zeit bekommen, sich zu "bilden." Hieran wie an andern Klagen dieser
Art ist uur soviel wahr, daß die einzelnen von ungeschickten Erziehern, die
man vielleicht nicht scharf genug beaufsichtigt, zuweilen zu unterschiedslos
und deshalb zu rücksichtslos behandelt werden, und daß das oft selbst bei
einfachen Arbeitern sehr empfindliche Ehrgefühl nicht immer genügend geschont
wird; aber verkehrt ist es, das "System", wie es alle Sozialdemokraten thun,
statt der Einzelnen verantwortlich zu machen. Die Sozialdemokraten bilden
sich ein, den Beweis unwiderleglich geführt zu haben, daß das System des
Militarismus die Schuld trage, sie werden sich ihrer Einseitigkeit nicht be¬
wußt, wenn sie die sozialdemokratischen Lehren auf die gegenwärtigen Ver¬
hältnisse anwenden, sondern halten die, die aus ihren "Fällen" nicht denselben
Schluß wie sie auf die Untauglichkeit des bestehenden Systems ziehen, für
nicht urteilsfähig genug, sich zu der freien Höhe des sozialdemokratischen
Standpunktes aufzuschwingen.

Die Sozialdemokratie hat gar leine Ursache, dem "bösen Militarismus"
zu grollen; wenn er nicht wäre, so stünde ihr keine disziplinirte Arbeiter¬
schaft zur Verfügung. Bebel kehrte in seiner Antwort auf die Rede des
Reichskanzlers das wahre Verhältnis um, als er die Sozialdemokratie ge-


in den Augen der Sozialdemokratie, daß der „militärische Geist" im Volke
erhalten bleibt. Die Gewöhnung an eine straffe Zucht und Ordnung, an den
unbedingten Gehorsam, den „Kadavergehorsam," um in ihrer Sprache zu reden,
kurz aller „Drill" ist ihr zuwider, sowohl an sich, als auch besonders, weil
er den Soldaten dem Volke „entfremdet." Durch die längere Dienstzeit, durch
das lange Tragen der Uniform lernt sich der Soldat als solcher fühlen.
Wenn die herrschenden Klassen unsre militärische Erziehung ausgezeichnet
finden, so ist es deshalb, weil sie ihren Interessen zu gute kommt, weil sie
ihnen ihren Besitz, ihr Privateigentum sichert. Die Vorgesetzten mögen aus
das Kunststück stolz sein, das sie jedes Jahr sertig bringen, eine Truppe,
unter der es einen mehr oder minder großen Bruchteil unbehilflicher, schwer¬
fälliger und widerwilliger Leute giebt, zu einer hurtiger, eifrigen und folg¬
samen Gesamtheit zu machen. Die übrigen Völker mögen auf unsre Einrich-
tungen, die sie uicht ohne große Mühe nachahmen tonnen, mit Neid blicken.
Die Sozialdemokratie ist von solcher Bewunderung weit entfernt, und ihre
Presse lauert jahraus jahrein auf Mängel, Versehen, „Fälle," um sie vor
der Öffentlichkeit mit Lärm aufzudecken. Nach einem Aufsatz „Unsre militärische
Erziehung" in der „wissenschaftlichen Revue" der sozialdemokratischen Partei,
der Neuen Zeit, wird bei uns viel zu viel auf die sogenannte körperliche
Ausbildung gesehen, die den Militärdienst geistlos und geisttötend macht; es
wird zwar nicht geradezu verlangt, daß den Soldaten das „Kapital" von
Marx in die Hände gegeben werde (das sie übrigens wie die meisten „Ge¬
nossen" weder lesen noch verstehen würden), aber sie müßten mehr Gelegenheit
und Zeit bekommen, sich zu „bilden." Hieran wie an andern Klagen dieser
Art ist uur soviel wahr, daß die einzelnen von ungeschickten Erziehern, die
man vielleicht nicht scharf genug beaufsichtigt, zuweilen zu unterschiedslos
und deshalb zu rücksichtslos behandelt werden, und daß das oft selbst bei
einfachen Arbeitern sehr empfindliche Ehrgefühl nicht immer genügend geschont
wird; aber verkehrt ist es, das „System", wie es alle Sozialdemokraten thun,
statt der Einzelnen verantwortlich zu machen. Die Sozialdemokraten bilden
sich ein, den Beweis unwiderleglich geführt zu haben, daß das System des
Militarismus die Schuld trage, sie werden sich ihrer Einseitigkeit nicht be¬
wußt, wenn sie die sozialdemokratischen Lehren auf die gegenwärtigen Ver¬
hältnisse anwenden, sondern halten die, die aus ihren „Fällen" nicht denselben
Schluß wie sie auf die Untauglichkeit des bestehenden Systems ziehen, für
nicht urteilsfähig genug, sich zu der freien Höhe des sozialdemokratischen
Standpunktes aufzuschwingen.

Die Sozialdemokratie hat gar leine Ursache, dem „bösen Militarismus"
zu grollen; wenn er nicht wäre, so stünde ihr keine disziplinirte Arbeiter¬
schaft zur Verfügung. Bebel kehrte in seiner Antwort auf die Rede des
Reichskanzlers das wahre Verhältnis um, als er die Sozialdemokratie ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/166>, abgerufen am 06.06.2024.