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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Titel: "Protestversammlungen gegen die Militärvorlage," in großen und kleinen
Städten, in den bekanntesten und den unbekanntesten Orten. In Berlin sind
in allen sechs Wahlkreisen "imposante" Versammlungen abgehalten worden, in
denen sechs Herren, die wirkliche Reichstagsabgeordnete waren, "referirten,"
und die Berliner Vororte Schöneberg, Köpenick, Rummelsburg und so fort
sind natürlich auch nicht vergessen worden, Herr Singer sah sich sogar ver¬
anlaßt, in Britz eine Rede über das Militär zu reden. Auch Herr von Voll-
mar raffte sich auf, um gegen den Militarismus, die Militärvorlage und die
Steuergesetze zu sprechen; nach ihm ist jede ernste soziale Verbesserung in
Deutschland unter dem herrschenden System unmöglich. In der Regel schließen
solche Versammlungen mit der Annahme von "Resolutionen," die in dem be¬
kannten entsetzlichen Resolutionenstil abgefaßt sind, und deren Hauptinhalt die
Erklärung bildet, daß die Militärvorlage durch die Vermehrung der ohnehin
unerschwinglichen öffentlichen Lasten die Nation erdrücken werde.

Die Agitation wird durch die Zeitverhältnisse begünstigt, die nicht dazu
angethan sind, die Bereitwilligkeit zur Übernahme neuer Lasten in der großen
Masse zu erregen. Wäre eine unmittelbar drohende Kriegsgefahr von rechts
oder links, von der einen oder andern Front vorhanden, so würde das Volk,
einschließlich der Sozialdemokratie, in patriotischer Aufwallung alle andern
Rücksichten vergessen. Nun aber befinden wir uns in einer Zeit des wirt¬
schaftlichen Niederganges, die ein ungewöhnlich großes Maß von Arbeits¬
losigkeit erzeugt, und ein gewisser Grad von Notstand ist diesen Winter auf
Gassen und Straßen allzu sichtbar geworden, als daß man ihn gänzlich
ableugnen könnte, wenn man ihn auch höher oder niedriger schätzen mag,
und wenn er auch zunächst die Gemeinden und die Einzelstaaten etwas angeht,
nicht das Reich. Eine solche Zeit, die verstimmt ist, ist wie geschaffen dazu,
daß die Partei der Unzufriedenheit xg-r <zxe(z1Jon<Z6, die Sozialdemokratie, reiche
Ernte hält. Der Vorwärts sagt: "Daß für uns das Jahr ein gesegnetes werde,
daran hegen wir keinen Zweifel," er sieht "einer Auflösung des Reichstags
mit frohem Mute entgegen. Die erste fünfjährige Wahlperiode hätte damit
gleich Fiasko gemacht, wir stünden wieder wie früher nach einer dreijährigen
Periode vor den Neuwahlen." Wie würde der Vorwärts triumphiren, wenn
dieses Ergebnis dnrch die angebliche "Festigkeit des Volkswillens" errungen
würde!

Eine feste Regierung kennt zwar höhere Pflichten, als daß sie sich durch
bloße Rücksichten auf solche Siege oder Niederlagen bestimmen ließe. Die
Sozialdemokratie aber würde es schwerlich bedauern, wenn es zwischen der
Negierung und den "bürgerlichen" Parteien zu keiner Verständigung über die
Militärvorlage käme.




Titel: „Protestversammlungen gegen die Militärvorlage," in großen und kleinen
Städten, in den bekanntesten und den unbekanntesten Orten. In Berlin sind
in allen sechs Wahlkreisen „imposante" Versammlungen abgehalten worden, in
denen sechs Herren, die wirkliche Reichstagsabgeordnete waren, „referirten,"
und die Berliner Vororte Schöneberg, Köpenick, Rummelsburg und so fort
sind natürlich auch nicht vergessen worden, Herr Singer sah sich sogar ver¬
anlaßt, in Britz eine Rede über das Militär zu reden. Auch Herr von Voll-
mar raffte sich auf, um gegen den Militarismus, die Militärvorlage und die
Steuergesetze zu sprechen; nach ihm ist jede ernste soziale Verbesserung in
Deutschland unter dem herrschenden System unmöglich. In der Regel schließen
solche Versammlungen mit der Annahme von „Resolutionen," die in dem be¬
kannten entsetzlichen Resolutionenstil abgefaßt sind, und deren Hauptinhalt die
Erklärung bildet, daß die Militärvorlage durch die Vermehrung der ohnehin
unerschwinglichen öffentlichen Lasten die Nation erdrücken werde.

Die Agitation wird durch die Zeitverhältnisse begünstigt, die nicht dazu
angethan sind, die Bereitwilligkeit zur Übernahme neuer Lasten in der großen
Masse zu erregen. Wäre eine unmittelbar drohende Kriegsgefahr von rechts
oder links, von der einen oder andern Front vorhanden, so würde das Volk,
einschließlich der Sozialdemokratie, in patriotischer Aufwallung alle andern
Rücksichten vergessen. Nun aber befinden wir uns in einer Zeit des wirt¬
schaftlichen Niederganges, die ein ungewöhnlich großes Maß von Arbeits¬
losigkeit erzeugt, und ein gewisser Grad von Notstand ist diesen Winter auf
Gassen und Straßen allzu sichtbar geworden, als daß man ihn gänzlich
ableugnen könnte, wenn man ihn auch höher oder niedriger schätzen mag,
und wenn er auch zunächst die Gemeinden und die Einzelstaaten etwas angeht,
nicht das Reich. Eine solche Zeit, die verstimmt ist, ist wie geschaffen dazu,
daß die Partei der Unzufriedenheit xg-r <zxe(z1Jon<Z6, die Sozialdemokratie, reiche
Ernte hält. Der Vorwärts sagt: „Daß für uns das Jahr ein gesegnetes werde,
daran hegen wir keinen Zweifel," er sieht „einer Auflösung des Reichstags
mit frohem Mute entgegen. Die erste fünfjährige Wahlperiode hätte damit
gleich Fiasko gemacht, wir stünden wieder wie früher nach einer dreijährigen
Periode vor den Neuwahlen." Wie würde der Vorwärts triumphiren, wenn
dieses Ergebnis dnrch die angebliche „Festigkeit des Volkswillens" errungen
würde!

Eine feste Regierung kennt zwar höhere Pflichten, als daß sie sich durch
bloße Rücksichten auf solche Siege oder Niederlagen bestimmen ließe. Die
Sozialdemokratie aber würde es schwerlich bedauern, wenn es zwischen der
Negierung und den „bürgerlichen" Parteien zu keiner Verständigung über die
Militärvorlage käme.




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[0173] Titel: „Protestversammlungen gegen die Militärvorlage," in großen und kleinen Städten, in den bekanntesten und den unbekanntesten Orten. In Berlin sind in allen sechs Wahlkreisen „imposante" Versammlungen abgehalten worden, in denen sechs Herren, die wirkliche Reichstagsabgeordnete waren, „referirten," und die Berliner Vororte Schöneberg, Köpenick, Rummelsburg und so fort sind natürlich auch nicht vergessen worden, Herr Singer sah sich sogar ver¬ anlaßt, in Britz eine Rede über das Militär zu reden. Auch Herr von Voll- mar raffte sich auf, um gegen den Militarismus, die Militärvorlage und die Steuergesetze zu sprechen; nach ihm ist jede ernste soziale Verbesserung in Deutschland unter dem herrschenden System unmöglich. In der Regel schließen solche Versammlungen mit der Annahme von „Resolutionen," die in dem be¬ kannten entsetzlichen Resolutionenstil abgefaßt sind, und deren Hauptinhalt die Erklärung bildet, daß die Militärvorlage durch die Vermehrung der ohnehin unerschwinglichen öffentlichen Lasten die Nation erdrücken werde. Die Agitation wird durch die Zeitverhältnisse begünstigt, die nicht dazu angethan sind, die Bereitwilligkeit zur Übernahme neuer Lasten in der großen Masse zu erregen. Wäre eine unmittelbar drohende Kriegsgefahr von rechts oder links, von der einen oder andern Front vorhanden, so würde das Volk, einschließlich der Sozialdemokratie, in patriotischer Aufwallung alle andern Rücksichten vergessen. Nun aber befinden wir uns in einer Zeit des wirt¬ schaftlichen Niederganges, die ein ungewöhnlich großes Maß von Arbeits¬ losigkeit erzeugt, und ein gewisser Grad von Notstand ist diesen Winter auf Gassen und Straßen allzu sichtbar geworden, als daß man ihn gänzlich ableugnen könnte, wenn man ihn auch höher oder niedriger schätzen mag, und wenn er auch zunächst die Gemeinden und die Einzelstaaten etwas angeht, nicht das Reich. Eine solche Zeit, die verstimmt ist, ist wie geschaffen dazu, daß die Partei der Unzufriedenheit xg-r <zxe(z1Jon<Z6, die Sozialdemokratie, reiche Ernte hält. Der Vorwärts sagt: „Daß für uns das Jahr ein gesegnetes werde, daran hegen wir keinen Zweifel," er sieht „einer Auflösung des Reichstags mit frohem Mute entgegen. Die erste fünfjährige Wahlperiode hätte damit gleich Fiasko gemacht, wir stünden wieder wie früher nach einer dreijährigen Periode vor den Neuwahlen." Wie würde der Vorwärts triumphiren, wenn dieses Ergebnis dnrch die angebliche „Festigkeit des Volkswillens" errungen würde! Eine feste Regierung kennt zwar höhere Pflichten, als daß sie sich durch bloße Rücksichten auf solche Siege oder Niederlagen bestimmen ließe. Die Sozialdemokratie aber würde es schwerlich bedauern, wenn es zwischen der Negierung und den „bürgerlichen" Parteien zu keiner Verständigung über die Militärvorlage käme.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/173>, abgerufen am 14.05.2024.