Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum 2!^. Janua'

ist: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen," so muß der Baum, der seit
hundert Jahren solche Früchte gebracht hat, ein recht fauler Baum auf recht
schlechtem Erdreich sein. Dreimal hat Frankreich wahrend dieser Zeit die
Republik erlebt, zweimal ein militärisches Kaisertum, das in seiner zweiten
Erscheinungsform unter Napoleon dein Dritten allerdings mehr eine demo¬
kratische Tyrannis als eine Militärherrschaft war, zweimal ist das Königtum,
jedesmal durch fremde Waffe", wiederhergestellt worden, wobei die Verände¬
rungen innerhalb dieser eben aufgestellten Stantsformen noch ganz außer Be¬
tracht geblieben sind. Wo liegen die Ursachen dieser Erscheinung, die in der
Geschichte andrer europäischer Staatswesen nicht ihres gleichen hat, und die
selbst in den unreifen Mittel- und südamerikanischen Republiken trotz aller Um¬
wälzungen nicht begegnet?

Nicht in der Revolution als solcher. Gewiß war die französische Re¬
volution ein Rechtsbruch, aber die menschliche Entwicklung bewegt sich nun
einmal sehr oft in Rechtsbrüchen vorwärts, denn alle menschlichen Einrich¬
tungen sind ans einer bestimmten Lage der Dinge erwachsen und auf Befriedi¬
gung bestimmter Bedürfnisse berechnet. Sobald sie beiden nicht mehr ent¬
sprechen, also Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage geworden ist, müssen sie
geändert werden, und falls das durch Vereinbarung der Beteiligten nicht zu
erreichen ist, tritt der Rechtsbruch ein, die Revolution, die ihrerseits wieder
ein neues Recht schafft. Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob sie von unter oder
von oben kommt. Eine Revolution war die Kirchenreformation des sechzehnten
Jahrhunderts, aber sie wurde es nur, weil die römische Kirche die urevan¬
gelischen Gedanken Luthers nicht mehr ertragen konnte und daher ausstieß.
Eine Revolution war es, wen" im siebzehnten Jahrhundert das Fürstentum
seine Unumschränktheit durchsetzte und damit den ständischen Staat seinein
Wesen nach brach, aber sie war notwendig, weil dieser ständische Staat nur
das Interesse der herrschenden Stunde berücksichtigte und nicht das Wohl des
Ganzen, und weil die Herrschenden niemals gutwillig ihre Stellung aufgegeben
hätten. Eine Fürstenrevvlutiou warf im Jahre 180^ die Gebietsverteilnng
im deutschen Reiche über den Häuser, indem sie die geistlichen und reichs¬
städtischen Gebiete den weltlichen Staaten einverleibte, aber sie vollendete damit
nur das unvollendet gebliebne politische Werk der Reformation, und eine
zweite Umwälzung der Art stellte 1815 den politischen Besitzstand Deutschlands
und Europas fest. Auf einer Revolution beruht endlich die Begründung des
deutschen Reichs; nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft "ut die entschei¬
denden Fragen durch das Frankfurter Parlament theoretisch völlig geklärt waren,
mußte das Schwert die Entscheidung bringen, wenn die Nation nicht politisch
verkommen sollte. Gegen alle diese Rechtsbrüche sind wohl immer zahlreiche
Verwahrungen der Benachteiligten ergangen, aber niemals ist einer von ihnen
rückgängig gemacht oder auch nnr ernsthaft wieder in Frage gestellt worden,


Gi'-Nizboten 1 1893 22
Zum 2!^. Janua'

ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen," so muß der Baum, der seit
hundert Jahren solche Früchte gebracht hat, ein recht fauler Baum auf recht
schlechtem Erdreich sein. Dreimal hat Frankreich wahrend dieser Zeit die
Republik erlebt, zweimal ein militärisches Kaisertum, das in seiner zweiten
Erscheinungsform unter Napoleon dein Dritten allerdings mehr eine demo¬
kratische Tyrannis als eine Militärherrschaft war, zweimal ist das Königtum,
jedesmal durch fremde Waffe», wiederhergestellt worden, wobei die Verände¬
rungen innerhalb dieser eben aufgestellten Stantsformen noch ganz außer Be¬
tracht geblieben sind. Wo liegen die Ursachen dieser Erscheinung, die in der
Geschichte andrer europäischer Staatswesen nicht ihres gleichen hat, und die
selbst in den unreifen Mittel- und südamerikanischen Republiken trotz aller Um¬
wälzungen nicht begegnet?

Nicht in der Revolution als solcher. Gewiß war die französische Re¬
volution ein Rechtsbruch, aber die menschliche Entwicklung bewegt sich nun
einmal sehr oft in Rechtsbrüchen vorwärts, denn alle menschlichen Einrich¬
tungen sind ans einer bestimmten Lage der Dinge erwachsen und auf Befriedi¬
gung bestimmter Bedürfnisse berechnet. Sobald sie beiden nicht mehr ent¬
sprechen, also Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage geworden ist, müssen sie
geändert werden, und falls das durch Vereinbarung der Beteiligten nicht zu
erreichen ist, tritt der Rechtsbruch ein, die Revolution, die ihrerseits wieder
ein neues Recht schafft. Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob sie von unter oder
von oben kommt. Eine Revolution war die Kirchenreformation des sechzehnten
Jahrhunderts, aber sie wurde es nur, weil die römische Kirche die urevan¬
gelischen Gedanken Luthers nicht mehr ertragen konnte und daher ausstieß.
Eine Revolution war es, wen» im siebzehnten Jahrhundert das Fürstentum
seine Unumschränktheit durchsetzte und damit den ständischen Staat seinein
Wesen nach brach, aber sie war notwendig, weil dieser ständische Staat nur
das Interesse der herrschenden Stunde berücksichtigte und nicht das Wohl des
Ganzen, und weil die Herrschenden niemals gutwillig ihre Stellung aufgegeben
hätten. Eine Fürstenrevvlutiou warf im Jahre 180^ die Gebietsverteilnng
im deutschen Reiche über den Häuser, indem sie die geistlichen und reichs¬
städtischen Gebiete den weltlichen Staaten einverleibte, aber sie vollendete damit
nur das unvollendet gebliebne politische Werk der Reformation, und eine
zweite Umwälzung der Art stellte 1815 den politischen Besitzstand Deutschlands
und Europas fest. Auf einer Revolution beruht endlich die Begründung des
deutschen Reichs; nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft »ut die entschei¬
denden Fragen durch das Frankfurter Parlament theoretisch völlig geklärt waren,
mußte das Schwert die Entscheidung bringen, wenn die Nation nicht politisch
verkommen sollte. Gegen alle diese Rechtsbrüche sind wohl immer zahlreiche
Verwahrungen der Benachteiligten ergangen, aber niemals ist einer von ihnen
rückgängig gemacht oder auch nnr ernsthaft wieder in Frage gestellt worden,


Gi'-Nizboten 1 1893 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213971"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum 2!^. Janua'</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_553" prev="#ID_552"> ist: &#x201E;An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen," so muß der Baum, der seit<lb/>
hundert Jahren solche Früchte gebracht hat, ein recht fauler Baum auf recht<lb/>
schlechtem Erdreich sein. Dreimal hat Frankreich wahrend dieser Zeit die<lb/>
Republik erlebt, zweimal ein militärisches Kaisertum, das in seiner zweiten<lb/>
Erscheinungsform unter Napoleon dein Dritten allerdings mehr eine demo¬<lb/>
kratische Tyrannis als eine Militärherrschaft war, zweimal ist das Königtum,<lb/>
jedesmal durch fremde Waffe», wiederhergestellt worden, wobei die Verände¬<lb/>
rungen innerhalb dieser eben aufgestellten Stantsformen noch ganz außer Be¬<lb/>
tracht geblieben sind. Wo liegen die Ursachen dieser Erscheinung, die in der<lb/>
Geschichte andrer europäischer Staatswesen nicht ihres gleichen hat, und die<lb/>
selbst in den unreifen Mittel- und südamerikanischen Republiken trotz aller Um¬<lb/>
wälzungen nicht begegnet?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_554" next="#ID_555"> Nicht in der Revolution als solcher. Gewiß war die französische Re¬<lb/>
volution ein Rechtsbruch, aber die menschliche Entwicklung bewegt sich nun<lb/>
einmal sehr oft in Rechtsbrüchen vorwärts, denn alle menschlichen Einrich¬<lb/>
tungen sind ans einer bestimmten Lage der Dinge erwachsen und auf Befriedi¬<lb/>
gung bestimmter Bedürfnisse berechnet. Sobald sie beiden nicht mehr ent¬<lb/>
sprechen, also Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage geworden ist, müssen sie<lb/>
geändert werden, und falls das durch Vereinbarung der Beteiligten nicht zu<lb/>
erreichen ist, tritt der Rechtsbruch ein, die Revolution, die ihrerseits wieder<lb/>
ein neues Recht schafft. Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob sie von unter oder<lb/>
von oben kommt. Eine Revolution war die Kirchenreformation des sechzehnten<lb/>
Jahrhunderts, aber sie wurde es nur, weil die römische Kirche die urevan¬<lb/>
gelischen Gedanken Luthers nicht mehr ertragen konnte und daher ausstieß.<lb/>
Eine Revolution war es, wen» im siebzehnten Jahrhundert das Fürstentum<lb/>
seine Unumschränktheit durchsetzte und damit den ständischen Staat seinein<lb/>
Wesen nach brach, aber sie war notwendig, weil dieser ständische Staat nur<lb/>
das Interesse der herrschenden Stunde berücksichtigte und nicht das Wohl des<lb/>
Ganzen, und weil die Herrschenden niemals gutwillig ihre Stellung aufgegeben<lb/>
hätten. Eine Fürstenrevvlutiou warf im Jahre 180^ die Gebietsverteilnng<lb/>
im deutschen Reiche über den Häuser, indem sie die geistlichen und reichs¬<lb/>
städtischen Gebiete den weltlichen Staaten einverleibte, aber sie vollendete damit<lb/>
nur das unvollendet gebliebne politische Werk der Reformation, und eine<lb/>
zweite Umwälzung der Art stellte 1815 den politischen Besitzstand Deutschlands<lb/>
und Europas fest. Auf einer Revolution beruht endlich die Begründung des<lb/>
deutschen Reichs; nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft »ut die entschei¬<lb/>
denden Fragen durch das Frankfurter Parlament theoretisch völlig geklärt waren,<lb/>
mußte das Schwert die Entscheidung bringen, wenn die Nation nicht politisch<lb/>
verkommen sollte. Gegen alle diese Rechtsbrüche sind wohl immer zahlreiche<lb/>
Verwahrungen der Benachteiligten ergangen, aber niemals ist einer von ihnen<lb/>
rückgängig gemacht oder auch nnr ernsthaft wieder in Frage gestellt worden,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gi'-Nizboten 1 1893 22</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Zum 2!^. Janua' ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen," so muß der Baum, der seit hundert Jahren solche Früchte gebracht hat, ein recht fauler Baum auf recht schlechtem Erdreich sein. Dreimal hat Frankreich wahrend dieser Zeit die Republik erlebt, zweimal ein militärisches Kaisertum, das in seiner zweiten Erscheinungsform unter Napoleon dein Dritten allerdings mehr eine demo¬ kratische Tyrannis als eine Militärherrschaft war, zweimal ist das Königtum, jedesmal durch fremde Waffe», wiederhergestellt worden, wobei die Verände¬ rungen innerhalb dieser eben aufgestellten Stantsformen noch ganz außer Be¬ tracht geblieben sind. Wo liegen die Ursachen dieser Erscheinung, die in der Geschichte andrer europäischer Staatswesen nicht ihres gleichen hat, und die selbst in den unreifen Mittel- und südamerikanischen Republiken trotz aller Um¬ wälzungen nicht begegnet? Nicht in der Revolution als solcher. Gewiß war die französische Re¬ volution ein Rechtsbruch, aber die menschliche Entwicklung bewegt sich nun einmal sehr oft in Rechtsbrüchen vorwärts, denn alle menschlichen Einrich¬ tungen sind ans einer bestimmten Lage der Dinge erwachsen und auf Befriedi¬ gung bestimmter Bedürfnisse berechnet. Sobald sie beiden nicht mehr ent¬ sprechen, also Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage geworden ist, müssen sie geändert werden, und falls das durch Vereinbarung der Beteiligten nicht zu erreichen ist, tritt der Rechtsbruch ein, die Revolution, die ihrerseits wieder ein neues Recht schafft. Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob sie von unter oder von oben kommt. Eine Revolution war die Kirchenreformation des sechzehnten Jahrhunderts, aber sie wurde es nur, weil die römische Kirche die urevan¬ gelischen Gedanken Luthers nicht mehr ertragen konnte und daher ausstieß. Eine Revolution war es, wen» im siebzehnten Jahrhundert das Fürstentum seine Unumschränktheit durchsetzte und damit den ständischen Staat seinein Wesen nach brach, aber sie war notwendig, weil dieser ständische Staat nur das Interesse der herrschenden Stunde berücksichtigte und nicht das Wohl des Ganzen, und weil die Herrschenden niemals gutwillig ihre Stellung aufgegeben hätten. Eine Fürstenrevvlutiou warf im Jahre 180^ die Gebietsverteilnng im deutschen Reiche über den Häuser, indem sie die geistlichen und reichs¬ städtischen Gebiete den weltlichen Staaten einverleibte, aber sie vollendete damit nur das unvollendet gebliebne politische Werk der Reformation, und eine zweite Umwälzung der Art stellte 1815 den politischen Besitzstand Deutschlands und Europas fest. Auf einer Revolution beruht endlich die Begründung des deutschen Reichs; nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft »ut die entschei¬ denden Fragen durch das Frankfurter Parlament theoretisch völlig geklärt waren, mußte das Schwert die Entscheidung bringen, wenn die Nation nicht politisch verkommen sollte. Gegen alle diese Rechtsbrüche sind wohl immer zahlreiche Verwahrungen der Benachteiligten ergangen, aber niemals ist einer von ihnen rückgängig gemacht oder auch nnr ernsthaft wieder in Frage gestellt worden, Gi'-Nizboten 1 1893 22

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/179>, abgerufen am 14.05.2024.