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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

das hieße zugleich ans unser ncitionales Wachstum verzichten. Stille steht
kein Volk, es wächst oder schwindet, wie ihm die eigne Kraft gebietet, es muß
auch räumlich weichen oder drängen, ob friedlich, ob mit der Waffe. "Wo
eines Platz nimmt, muß das andre rücken, wer nicht Vertrieben sein will, muß
vertreiben. Da herrscht der Streit und nur die Stärke siegt."

Das ist nicht etwa nur ein Gesetz roher Völker, sondern kein Kulturvolk
kaun sich ihm entziehn; nur in den Mitteln und Waffe" unterscheidet sich der
Daseins- und Wachstnmstampf des Barbaren und des Europäers, und die
Gewaltthat gegen den Fremden ist barbarisch, weit barbarischer als der offne
Kampf des Schwertes. Nur äußerste Not dürfte ein Volk, einen Staat zur
Gewalt gegen Staatsbürger treiben, bloß weil sie fremden Stammes sind.
Für den Kampf der Nationalitäten giebt es im Kulturstaat andre Waffen;
die rohe Gewalt der staatlichen Übermacht bleibt verwerflich, soweit sie nicht
dnrch Gewaltthat oder äußerste Gefahr einer solchen von der fremden
Nationalität selbst heraufbeschwuren worden ist. Wo wäre denn ein Ende der
nationalen Hetze, wenn jeder im Staate herrschende Stamm die Bewohner
fremden Stammes vertreiben wollte und sollte? wo wäre die Grenze des
Deutschlands, das nur für die Deutschen wäre? Deutschland hat seit den
großen Zeiten der Ottonen wenig erobert, viel verloren an Gebiet; aber es
geziemte uns, die Gewalt zur Eroberung von Elsaß-Lothringen oder von Posen
in offnem Kampfe anzuwenden, und es geziemt uns nicht, die Gewalt gegen
die Eroberten fremden Stammes zu mißbrauchen. Eine Provinz, ein Land
wird durch den Krieg gewonnen, dnrch den Krieg wieder verloren; soll das
eroberte Land hente nur für die Deutschen, morgen nur für die Russen, über¬
morgen vielleicht nnr für ein drittes Volk da sein?

Wenn man heute Macchiavell die Frage vorlegen könnte: "Was soll
Deutschland mit seinen Polen, was Rußland mit seinen Polen, Deutschen n. s. w.
machen?" er würde vielleicht antworten: "Totschießen und das Land an Deutsche,
an Russen vergeben." Ja, lebten wir heute in Sitten und Lebensformen,
wie sie in dein Italien Macchiavells herrschten, so wäre die Antwort vielleicht
nicht so übel. Aber weil wir uns nun einmal heute solcher radikalen Mittel
nicht bedienen können, sollten wir die Vergewaltigung fremden Volkstums
überhaupt aufgeben, sollten wir uns im nationalen Kampf auf die Waffen
beschränken, die uns unsre Zeit und Kultur bieten, die Waffen der Kultur¬
arbeit, der höhern Leistungskraft auf wirtschaftlichem, auf moralischem, auf
geistigem Gebiete, unterstützt durch die gewaltigen friedlichen Mittel des mo¬
dernen Staats. Wenn Deutschland eine führende Rolle einnehmen will in
dem Kulturleben Europas, so müssen wir mit allen: Ernst darnach streben,
dem wilden Nationalismus, der jetzt um sich greift, entgegenzutreten, in dem
heißer werdenden Kampf der Nationen streng zu unterscheiden zwischen den
erlaubten und deu vergifteten Waffen, zwischen Kulturmitteln und Gewalt-


Deutschland und Rußland

das hieße zugleich ans unser ncitionales Wachstum verzichten. Stille steht
kein Volk, es wächst oder schwindet, wie ihm die eigne Kraft gebietet, es muß
auch räumlich weichen oder drängen, ob friedlich, ob mit der Waffe. „Wo
eines Platz nimmt, muß das andre rücken, wer nicht Vertrieben sein will, muß
vertreiben. Da herrscht der Streit und nur die Stärke siegt."

Das ist nicht etwa nur ein Gesetz roher Völker, sondern kein Kulturvolk
kaun sich ihm entziehn; nur in den Mitteln und Waffe» unterscheidet sich der
Daseins- und Wachstnmstampf des Barbaren und des Europäers, und die
Gewaltthat gegen den Fremden ist barbarisch, weit barbarischer als der offne
Kampf des Schwertes. Nur äußerste Not dürfte ein Volk, einen Staat zur
Gewalt gegen Staatsbürger treiben, bloß weil sie fremden Stammes sind.
Für den Kampf der Nationalitäten giebt es im Kulturstaat andre Waffen;
die rohe Gewalt der staatlichen Übermacht bleibt verwerflich, soweit sie nicht
dnrch Gewaltthat oder äußerste Gefahr einer solchen von der fremden
Nationalität selbst heraufbeschwuren worden ist. Wo wäre denn ein Ende der
nationalen Hetze, wenn jeder im Staate herrschende Stamm die Bewohner
fremden Stammes vertreiben wollte und sollte? wo wäre die Grenze des
Deutschlands, das nur für die Deutschen wäre? Deutschland hat seit den
großen Zeiten der Ottonen wenig erobert, viel verloren an Gebiet; aber es
geziemte uns, die Gewalt zur Eroberung von Elsaß-Lothringen oder von Posen
in offnem Kampfe anzuwenden, und es geziemt uns nicht, die Gewalt gegen
die Eroberten fremden Stammes zu mißbrauchen. Eine Provinz, ein Land
wird durch den Krieg gewonnen, dnrch den Krieg wieder verloren; soll das
eroberte Land hente nur für die Deutschen, morgen nur für die Russen, über¬
morgen vielleicht nnr für ein drittes Volk da sein?

Wenn man heute Macchiavell die Frage vorlegen könnte: „Was soll
Deutschland mit seinen Polen, was Rußland mit seinen Polen, Deutschen n. s. w.
machen?" er würde vielleicht antworten: „Totschießen und das Land an Deutsche,
an Russen vergeben." Ja, lebten wir heute in Sitten und Lebensformen,
wie sie in dein Italien Macchiavells herrschten, so wäre die Antwort vielleicht
nicht so übel. Aber weil wir uns nun einmal heute solcher radikalen Mittel
nicht bedienen können, sollten wir die Vergewaltigung fremden Volkstums
überhaupt aufgeben, sollten wir uns im nationalen Kampf auf die Waffen
beschränken, die uns unsre Zeit und Kultur bieten, die Waffen der Kultur¬
arbeit, der höhern Leistungskraft auf wirtschaftlichem, auf moralischem, auf
geistigem Gebiete, unterstützt durch die gewaltigen friedlichen Mittel des mo¬
dernen Staats. Wenn Deutschland eine führende Rolle einnehmen will in
dem Kulturleben Europas, so müssen wir mit allen: Ernst darnach streben,
dem wilden Nationalismus, der jetzt um sich greift, entgegenzutreten, in dem
heißer werdenden Kampf der Nationen streng zu unterscheiden zwischen den
erlaubten und deu vergifteten Waffen, zwischen Kulturmitteln und Gewalt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/18>, abgerufen am 12.05.2024.