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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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gewaltigen Heeresverstärkung. Diesen Beweis haben die Offiziösen bisher,
ganz abgesehen noch von der sonderbaren Geheimthuerei bei der Einbringung
einer so tief einschneidenden Vorlage, ungeschickt und unvollständig geführt. Es
ist die Landwehr in einer ebenso unbegreiflichen als ungerechten Weise ver¬
unglimpft worden, es ist sogar die Autorität Moltkes in Bezug auf die Be¬
deutung Belforts in Zweifel gezogen und die wahrhaft kläglich schwachmütige
Behauptung aufgestellt worden, daß Süddeutschland ohne die geforderte Heeres¬
verstärkung nicht geschützt werde" könne. Wenn das vor 1870, vor der Er¬
werbung der festen Vogesengreuze, vor der Eroberung von Straßburg und Metz
einigermaßen begründet sein mochte, obwohl 1870 der Gegenbeweis glänzend
geführt worden ist, so kann doch jetzt dergleichen nicht mehr ernsthaft behauptet
werden. Endlich wird immer und immer wieder der Krieg auf zwei Fronten als
unvermeidlich hingestellt, und zwar mit dem Hintergedanken, daß wir einen solchen
der Hauptsache nach allein würden auszufechten haben. Nun kann zunächst
heute kein Mensch, auch der erfahrenste Diplomat nicht, wissen, ob jener Fall
überhaupt eintreten wird, und nicht oft und nicht energisch genug kann betont
werden: es ist ausschließlich die Pflicht der deutscheu Staatsleitnng, dafür zu
sorgen, daß diese Möglichkeit nicht eintritt, und daß, wenn sie dennoch ein¬
treten sollte, wir dann nicht allein stehen. Das wird dann am besten ge¬
lingen, wenn unsre Nachbarn, vor allem Rußland, davon überzeugt sind, daß
Deutschland politisch niemals einen Angriffskrieg führen wird, und daß es
unter allen Umständen nur für seiue eignen Interessen zu den Waffen greifen
wird, nicht einmal für die besondern Interessen Österreichs auf der Balkan¬
halbinsel, am wenigsten für die gierige Handelspolitik des britischen Polypen¬
reichs. Die Zeit, wo sich England für englische Sovereigns deutsche Fürsten
kaufte, um mit deutschem Blute seine Welthandelsstellung und Kolonialherr¬
schaft zu behaupten oder auszudehnen, ist unwiderruflich vorbei, das muß
allen klar fein, darüber darf in London wie in Petersburg nicht der mindeste
Zweifel gelassen werden. Hat doch einmal Fürst Bismarck sogar dem Kaiser
von Osterreich gesagt, er möge die Russen ruhig nach Konstantinopel mar¬
schieren lassen und abwarten, bis die Engländer den ersten .Kanonenschuß ab¬
feuerten; die Russen seien für Österreich viel leichter angreifbar, wenn sie nicht
nur nördlich, sondern auch südlich von der Donau stünden. Und daraus ist die
Staatskunst des Fürsten Bismarck in kaltblütiger Erwägung unsrer Interessen
stets ausgegangen, jene Überzeugung überall zu begründen und zu befestigen.
Das ist der Probirstein für die Staatsleitung seines Nachfolgers; tuo Alle"co8,
die; szM^! Ob Graf Caprivi freilich diese Probe bestehn wird? Sollen
seine Erklärungen vor der Kommission etwa andeuten, daß Deutschland der
russischen Orientpvlitik unter allen Umständen entgegentreten wird? Soll sich
die Spitze der deutscheu Politik jetzt gegen Rußland, statt gegen Frankreich
kehren? Das wäre ein verhängnisvoller Fehler, denn das hieße doch in erster


vor der Entscheidung

gewaltigen Heeresverstärkung. Diesen Beweis haben die Offiziösen bisher,
ganz abgesehen noch von der sonderbaren Geheimthuerei bei der Einbringung
einer so tief einschneidenden Vorlage, ungeschickt und unvollständig geführt. Es
ist die Landwehr in einer ebenso unbegreiflichen als ungerechten Weise ver¬
unglimpft worden, es ist sogar die Autorität Moltkes in Bezug auf die Be¬
deutung Belforts in Zweifel gezogen und die wahrhaft kläglich schwachmütige
Behauptung aufgestellt worden, daß Süddeutschland ohne die geforderte Heeres¬
verstärkung nicht geschützt werde» könne. Wenn das vor 1870, vor der Er¬
werbung der festen Vogesengreuze, vor der Eroberung von Straßburg und Metz
einigermaßen begründet sein mochte, obwohl 1870 der Gegenbeweis glänzend
geführt worden ist, so kann doch jetzt dergleichen nicht mehr ernsthaft behauptet
werden. Endlich wird immer und immer wieder der Krieg auf zwei Fronten als
unvermeidlich hingestellt, und zwar mit dem Hintergedanken, daß wir einen solchen
der Hauptsache nach allein würden auszufechten haben. Nun kann zunächst
heute kein Mensch, auch der erfahrenste Diplomat nicht, wissen, ob jener Fall
überhaupt eintreten wird, und nicht oft und nicht energisch genug kann betont
werden: es ist ausschließlich die Pflicht der deutscheu Staatsleitnng, dafür zu
sorgen, daß diese Möglichkeit nicht eintritt, und daß, wenn sie dennoch ein¬
treten sollte, wir dann nicht allein stehen. Das wird dann am besten ge¬
lingen, wenn unsre Nachbarn, vor allem Rußland, davon überzeugt sind, daß
Deutschland politisch niemals einen Angriffskrieg führen wird, und daß es
unter allen Umständen nur für seiue eignen Interessen zu den Waffen greifen
wird, nicht einmal für die besondern Interessen Österreichs auf der Balkan¬
halbinsel, am wenigsten für die gierige Handelspolitik des britischen Polypen¬
reichs. Die Zeit, wo sich England für englische Sovereigns deutsche Fürsten
kaufte, um mit deutschem Blute seine Welthandelsstellung und Kolonialherr¬
schaft zu behaupten oder auszudehnen, ist unwiderruflich vorbei, das muß
allen klar fein, darüber darf in London wie in Petersburg nicht der mindeste
Zweifel gelassen werden. Hat doch einmal Fürst Bismarck sogar dem Kaiser
von Osterreich gesagt, er möge die Russen ruhig nach Konstantinopel mar¬
schieren lassen und abwarten, bis die Engländer den ersten .Kanonenschuß ab¬
feuerten; die Russen seien für Österreich viel leichter angreifbar, wenn sie nicht
nur nördlich, sondern auch südlich von der Donau stünden. Und daraus ist die
Staatskunst des Fürsten Bismarck in kaltblütiger Erwägung unsrer Interessen
stets ausgegangen, jene Überzeugung überall zu begründen und zu befestigen.
Das ist der Probirstein für die Staatsleitung seines Nachfolgers; tuo Alle»co8,
die; szM^! Ob Graf Caprivi freilich diese Probe bestehn wird? Sollen
seine Erklärungen vor der Kommission etwa andeuten, daß Deutschland der
russischen Orientpvlitik unter allen Umständen entgegentreten wird? Soll sich
die Spitze der deutscheu Politik jetzt gegen Rußland, statt gegen Frankreich
kehren? Das wäre ein verhängnisvoller Fehler, denn das hieße doch in erster


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[0199] vor der Entscheidung gewaltigen Heeresverstärkung. Diesen Beweis haben die Offiziösen bisher, ganz abgesehen noch von der sonderbaren Geheimthuerei bei der Einbringung einer so tief einschneidenden Vorlage, ungeschickt und unvollständig geführt. Es ist die Landwehr in einer ebenso unbegreiflichen als ungerechten Weise ver¬ unglimpft worden, es ist sogar die Autorität Moltkes in Bezug auf die Be¬ deutung Belforts in Zweifel gezogen und die wahrhaft kläglich schwachmütige Behauptung aufgestellt worden, daß Süddeutschland ohne die geforderte Heeres¬ verstärkung nicht geschützt werde» könne. Wenn das vor 1870, vor der Er¬ werbung der festen Vogesengreuze, vor der Eroberung von Straßburg und Metz einigermaßen begründet sein mochte, obwohl 1870 der Gegenbeweis glänzend geführt worden ist, so kann doch jetzt dergleichen nicht mehr ernsthaft behauptet werden. Endlich wird immer und immer wieder der Krieg auf zwei Fronten als unvermeidlich hingestellt, und zwar mit dem Hintergedanken, daß wir einen solchen der Hauptsache nach allein würden auszufechten haben. Nun kann zunächst heute kein Mensch, auch der erfahrenste Diplomat nicht, wissen, ob jener Fall überhaupt eintreten wird, und nicht oft und nicht energisch genug kann betont werden: es ist ausschließlich die Pflicht der deutscheu Staatsleitnng, dafür zu sorgen, daß diese Möglichkeit nicht eintritt, und daß, wenn sie dennoch ein¬ treten sollte, wir dann nicht allein stehen. Das wird dann am besten ge¬ lingen, wenn unsre Nachbarn, vor allem Rußland, davon überzeugt sind, daß Deutschland politisch niemals einen Angriffskrieg führen wird, und daß es unter allen Umständen nur für seiue eignen Interessen zu den Waffen greifen wird, nicht einmal für die besondern Interessen Österreichs auf der Balkan¬ halbinsel, am wenigsten für die gierige Handelspolitik des britischen Polypen¬ reichs. Die Zeit, wo sich England für englische Sovereigns deutsche Fürsten kaufte, um mit deutschem Blute seine Welthandelsstellung und Kolonialherr¬ schaft zu behaupten oder auszudehnen, ist unwiderruflich vorbei, das muß allen klar fein, darüber darf in London wie in Petersburg nicht der mindeste Zweifel gelassen werden. Hat doch einmal Fürst Bismarck sogar dem Kaiser von Osterreich gesagt, er möge die Russen ruhig nach Konstantinopel mar¬ schieren lassen und abwarten, bis die Engländer den ersten .Kanonenschuß ab¬ feuerten; die Russen seien für Österreich viel leichter angreifbar, wenn sie nicht nur nördlich, sondern auch südlich von der Donau stünden. Und daraus ist die Staatskunst des Fürsten Bismarck in kaltblütiger Erwägung unsrer Interessen stets ausgegangen, jene Überzeugung überall zu begründen und zu befestigen. Das ist der Probirstein für die Staatsleitung seines Nachfolgers; tuo Alle»co8, die; szM^! Ob Graf Caprivi freilich diese Probe bestehn wird? Sollen seine Erklärungen vor der Kommission etwa andeuten, daß Deutschland der russischen Orientpvlitik unter allen Umständen entgegentreten wird? Soll sich die Spitze der deutscheu Politik jetzt gegen Rußland, statt gegen Frankreich kehren? Das wäre ein verhängnisvoller Fehler, denn das hieße doch in erster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/199>, abgerufen am 26.05.2024.