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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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regeln getroffen. Und was Alexander der Zweite in den letzten zehn Jahren
seiner Regierung ans Pietät geschont hatte, verfiel dem Eiser seines Sohnes.
Es Ware irrig, anzunehmen, der jetzige Kaiser sei ganz und gar in das pau-
slawistische Fahrwasser geraten, politische Absichten liegen ihm im Grunde fern.
Er betrachtet es als seine Mission, wie Lamm jetzt in seinem vielbesprochen
Aufsatze in der OmitkinpcirÄr^ Ksviov sagt, i" seinem Reiche die griechische
Kirche zur Alleinherrscherin zu machen, und deshalb sind ihm die evangelischen
Deutschen ebenso unangenehm, wie die katholischen Polen. Die Mittel zu
ihrer Unterdrückung waren vorhanden, nur waren zu Alexanders des Zweiten
Zeit die Gesetze nicht genan beobachtet, einige Paragraphen entweder gar nicht
oder uur in sehr milder Form angewendet worden; Alexander der Dritte
kehrte zu Nikolaus starrem System, zu seiner strengen Handhabung der Ne-
ligivnsgesetze zurück. Es ist ja eine entsetzliche Härte, wenn evangelische Geist¬
liche in den Ostseeprovinzen ihres Amtes entsetzt oder verbannt werden, weil
sie ihre Gemeindeglieder vor dem Übertritt zur griechischen Kirche gewarnt
haben; es ist eine in Europa beispiellose Unduldsamkeit, die den Übertritt aus
der orthodoxen Kirche in eine andre gesetzlich unmöglich macht; aber es sind
keine gesetzwidrigen, willkürlichen Äußerungen des monarchischen Willens,
sondern nur die Folgen strenger Durchführung der bereits bestehenden Rechts¬
mittel. Ganz so schlimm ist die Sache auch uicht, wie sie in deutschen Blättern
oft geschildert wird. Ein hochangesehener, erfahrner lutherischer Geistlicher
Petersburgs weist entschieden die Annahme zurück, daß wir es in Rußland
mit einer Verfolgung der lutherischen Kirche zu thun hätten, wenn er auch
vielleicht deu Druck schwer empfindet, der auf das Gewissen der evangelischen
Geistlichen in den baltischen Provinzen ausgeübt wird.

Daß die Abneigung des jetzigen Zaren gegen die Lutheraner von der
slawophilen Partei zu ihren politischen Zwecken würde ausgenutzt werden,
war vorauszusehen, die in der That fast unglaublichen Rechte des deutscheu
Adels, die Selbstherrlichkeit der baltischen Ritterschaft, des deutschen Bürger¬
tums in den Städten und die geistige Vorherrschaft der Landesuniversität
Dorpat waren dieser Partei schon lange ein Dorn im Auge gewesen und
mußten fallen, wenn sie zu ihrem Ziele gelangen wollte. Daß es mit dem
Fall so schnell ging, daran trügt der Deutsche selbst einen guten Teil der
Schuld. Der deutsche Adel und die deutsche Geistlichkeit, beide in ihrer selt¬
sam bevorzugten Stellung verwöhnt, hatten es gänzlich vernachlässigt, sich
dem eingebornen Bauerustcnnme zu nähern; besonders in Kurland war die
Kluft zwischen den Baronen und Geistlichen auf der einen, dem lettischen
Bauernvolke auf der andern Seite so groß geworden, daß es uur einiger ge¬
schickten Griffe bedurfte, um die Letten den Russen, den Slawophilen in die
Arme zu treiben und damit die Herrschaft des Deutschtums zu brechen. Die vor
einiger Zeit in dieser Zeitschrift (1892, Heft 32) veröffentlichte Biographie des


regeln getroffen. Und was Alexander der Zweite in den letzten zehn Jahren
seiner Regierung ans Pietät geschont hatte, verfiel dem Eiser seines Sohnes.
Es Ware irrig, anzunehmen, der jetzige Kaiser sei ganz und gar in das pau-
slawistische Fahrwasser geraten, politische Absichten liegen ihm im Grunde fern.
Er betrachtet es als seine Mission, wie Lamm jetzt in seinem vielbesprochen
Aufsatze in der OmitkinpcirÄr^ Ksviov sagt, i» seinem Reiche die griechische
Kirche zur Alleinherrscherin zu machen, und deshalb sind ihm die evangelischen
Deutschen ebenso unangenehm, wie die katholischen Polen. Die Mittel zu
ihrer Unterdrückung waren vorhanden, nur waren zu Alexanders des Zweiten
Zeit die Gesetze nicht genan beobachtet, einige Paragraphen entweder gar nicht
oder uur in sehr milder Form angewendet worden; Alexander der Dritte
kehrte zu Nikolaus starrem System, zu seiner strengen Handhabung der Ne-
ligivnsgesetze zurück. Es ist ja eine entsetzliche Härte, wenn evangelische Geist¬
liche in den Ostseeprovinzen ihres Amtes entsetzt oder verbannt werden, weil
sie ihre Gemeindeglieder vor dem Übertritt zur griechischen Kirche gewarnt
haben; es ist eine in Europa beispiellose Unduldsamkeit, die den Übertritt aus
der orthodoxen Kirche in eine andre gesetzlich unmöglich macht; aber es sind
keine gesetzwidrigen, willkürlichen Äußerungen des monarchischen Willens,
sondern nur die Folgen strenger Durchführung der bereits bestehenden Rechts¬
mittel. Ganz so schlimm ist die Sache auch uicht, wie sie in deutschen Blättern
oft geschildert wird. Ein hochangesehener, erfahrner lutherischer Geistlicher
Petersburgs weist entschieden die Annahme zurück, daß wir es in Rußland
mit einer Verfolgung der lutherischen Kirche zu thun hätten, wenn er auch
vielleicht deu Druck schwer empfindet, der auf das Gewissen der evangelischen
Geistlichen in den baltischen Provinzen ausgeübt wird.

Daß die Abneigung des jetzigen Zaren gegen die Lutheraner von der
slawophilen Partei zu ihren politischen Zwecken würde ausgenutzt werden,
war vorauszusehen, die in der That fast unglaublichen Rechte des deutscheu
Adels, die Selbstherrlichkeit der baltischen Ritterschaft, des deutschen Bürger¬
tums in den Städten und die geistige Vorherrschaft der Landesuniversität
Dorpat waren dieser Partei schon lange ein Dorn im Auge gewesen und
mußten fallen, wenn sie zu ihrem Ziele gelangen wollte. Daß es mit dem
Fall so schnell ging, daran trügt der Deutsche selbst einen guten Teil der
Schuld. Der deutsche Adel und die deutsche Geistlichkeit, beide in ihrer selt¬
sam bevorzugten Stellung verwöhnt, hatten es gänzlich vernachlässigt, sich
dem eingebornen Bauerustcnnme zu nähern; besonders in Kurland war die
Kluft zwischen den Baronen und Geistlichen auf der einen, dem lettischen
Bauernvolke auf der andern Seite so groß geworden, daß es uur einiger ge¬
schickten Griffe bedurfte, um die Letten den Russen, den Slawophilen in die
Arme zu treiben und damit die Herrschaft des Deutschtums zu brechen. Die vor
einiger Zeit in dieser Zeitschrift (1892, Heft 32) veröffentlichte Biographie des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/272>, abgerufen am 16.06.2024.