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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Zivil- und straft'ichter

nach Schluß der Nerhaudlung in der sich unmittelbar anschließenden Beratung
besprochen wird, beschränkt sich meist auf eine kurze Darlegung der aus dem
allgemeinen Rechtsgefühle des Urteilenden gewonnenen Überzeugung, wie sie
der Inbegriff der Hauptverhandlung in ihm hervorgerufen hat, während die
juristische Konstruktion, also die Probe auf die Richtigkeit des Exempels, durch¬
gängig dem Referenten, also dein überlassen wird, der die Urteilsgründe zu
"bauen" hat.

Das; irgend eine andre Organisation des Strafgerichts hier Wandel schaffen
könnte, glaube ich kaum; denn die dein Zivilrichter gegenüber in juristischer
Beziehung etwas minderwertige Stellung des Strafrichters ist eben in der
Natur der Sache, in der verschiednen Behandluiig begründet, die jeder prak¬
tische Jurist Strafsachen und Zivilsachen angedeihen läßt. Allein daß dieser
Unterschied zwischen dem Richter der Strafkammer und dem der Zivilkammer
heutige" Tages so ganz besonders scharf und schneidend empfunden wird, und
daß nicht die sonstige Bedeutung des Strafrichters als des Richters über
Leben, Freiheit und Ehre seiner Mitmenschen dieses juristische Mindergewicht
reichlich aufwiegt, das ist allerdings einem Fehler in der Organisation unsrer
Strafgerichte zuzuschreiben, der sehr wohl gebessert werden könnte. Bei Ein¬
führung unsrer gegenwärtigen Strafgerichtsverfassung hegte man die Anschauung,
daß die Bürgschaft für die Nichtigkeit der mir der Revision unterliegenden,
mit der Berufung nicht anzufechtenden Urteile der Strafkammern um so größer
werde, mit je mehr Richtern man die Strafkammer" besetze. Dieser haupt-
sächlich von Herrn Laster vertretene doktrinäre Satz hat mit andern doktri¬
nären Sätzen das gemein, daß er sich in der Praxis bis zu einem gewissen
Grade bewährt, daß aber, wenn man ihn über eine bestimmte Grenze hinaus
zu verwirklichen sucht, gemalt das Gegenteil voll dem erreicht wird, was man
erstrebt. Nach den länger als ein Jahrzehnt gemachten Erfahrungen des prak¬
tischen Lebens, die mehr beweisen, als die glänzendste philosophisch-theoretische
Beredsamkeit, darf man Wohl sagen, daß unsre Strafprozeßordnung diese Grenze
überschritten hat, als sie im Interesse der Bürgschaft für eine möglichst gute
Rechtsprechung die Strafkammer in erster Instanz und auch in den meisten
Füllen der Berufungsinstanz nicht mit den sonst für Gerichte erster Instanz
allgemein üblichen drei Richtern, soudern mit fünf Richtern besetzen z" müssen
glaubte. Die Strafprozeßordnung berücksichtigte hierbei nicht, daß die Richter
auch Menschen sind, und daß eine über das richtige, in der Praxis bewährte
Maß hinausgehende Verstärkung der Kollegien die Bürgschaft für eine gute
Rechtsprechung schwächt, statt sie zu stärken. Die Aufmerksamkeit des ein¬
zelnen erlahmt in dem Maße, wie die Zahl der an der Entscheidung mit¬
wirkenden über Gebühr erhöht wird. Jeder verläßt sich auf den andern, und
so bildet sich schließlich der Gebrauch, daß die Verantwortlichkeit, wenn sie
much nach außen hin von der Gesamtheit getragen werde" muß, doch im


Zivil- und straft'ichter

nach Schluß der Nerhaudlung in der sich unmittelbar anschließenden Beratung
besprochen wird, beschränkt sich meist auf eine kurze Darlegung der aus dem
allgemeinen Rechtsgefühle des Urteilenden gewonnenen Überzeugung, wie sie
der Inbegriff der Hauptverhandlung in ihm hervorgerufen hat, während die
juristische Konstruktion, also die Probe auf die Richtigkeit des Exempels, durch¬
gängig dem Referenten, also dein überlassen wird, der die Urteilsgründe zu
„bauen" hat.

Das; irgend eine andre Organisation des Strafgerichts hier Wandel schaffen
könnte, glaube ich kaum; denn die dein Zivilrichter gegenüber in juristischer
Beziehung etwas minderwertige Stellung des Strafrichters ist eben in der
Natur der Sache, in der verschiednen Behandluiig begründet, die jeder prak¬
tische Jurist Strafsachen und Zivilsachen angedeihen läßt. Allein daß dieser
Unterschied zwischen dem Richter der Strafkammer und dem der Zivilkammer
heutige» Tages so ganz besonders scharf und schneidend empfunden wird, und
daß nicht die sonstige Bedeutung des Strafrichters als des Richters über
Leben, Freiheit und Ehre seiner Mitmenschen dieses juristische Mindergewicht
reichlich aufwiegt, das ist allerdings einem Fehler in der Organisation unsrer
Strafgerichte zuzuschreiben, der sehr wohl gebessert werden könnte. Bei Ein¬
führung unsrer gegenwärtigen Strafgerichtsverfassung hegte man die Anschauung,
daß die Bürgschaft für die Nichtigkeit der mir der Revision unterliegenden,
mit der Berufung nicht anzufechtenden Urteile der Strafkammern um so größer
werde, mit je mehr Richtern man die Strafkammer» besetze. Dieser haupt-
sächlich von Herrn Laster vertretene doktrinäre Satz hat mit andern doktri¬
nären Sätzen das gemein, daß er sich in der Praxis bis zu einem gewissen
Grade bewährt, daß aber, wenn man ihn über eine bestimmte Grenze hinaus
zu verwirklichen sucht, gemalt das Gegenteil voll dem erreicht wird, was man
erstrebt. Nach den länger als ein Jahrzehnt gemachten Erfahrungen des prak¬
tischen Lebens, die mehr beweisen, als die glänzendste philosophisch-theoretische
Beredsamkeit, darf man Wohl sagen, daß unsre Strafprozeßordnung diese Grenze
überschritten hat, als sie im Interesse der Bürgschaft für eine möglichst gute
Rechtsprechung die Strafkammer in erster Instanz und auch in den meisten
Füllen der Berufungsinstanz nicht mit den sonst für Gerichte erster Instanz
allgemein üblichen drei Richtern, soudern mit fünf Richtern besetzen z» müssen
glaubte. Die Strafprozeßordnung berücksichtigte hierbei nicht, daß die Richter
auch Menschen sind, und daß eine über das richtige, in der Praxis bewährte
Maß hinausgehende Verstärkung der Kollegien die Bürgschaft für eine gute
Rechtsprechung schwächt, statt sie zu stärken. Die Aufmerksamkeit des ein¬
zelnen erlahmt in dem Maße, wie die Zahl der an der Entscheidung mit¬
wirkenden über Gebühr erhöht wird. Jeder verläßt sich auf den andern, und
so bildet sich schließlich der Gebrauch, daß die Verantwortlichkeit, wenn sie
much nach außen hin von der Gesamtheit getragen werde» muß, doch im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/285>, abgerufen am 16.06.2024.