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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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ivie Ludwig pietsch Schriftsteller wurde

seinen Erinnerungen liest, mit welchem Jubel er den Erwerb von Goethes
Werken begrüßte, deren Kosten er sich von einem Buchhändler, der ihm Auf¬
träge zu kleinen Illustrationen gab, nach und nach von seinen kärglich be¬
messenen Honoraren abziehen ließ. Was er aus diese Weise an Büchern er¬
warb, ist ihm durch fleißiges Lesen auch wirklich zum Besitz geworden. Noch
heute ist die Kraft seines Gedächtnisses staunenswert, das über einen stets
bereiten Zitatenschatz von beträchtlichem Umfange gebietet. Seine Belesenheit
erstreckt sich über die gesamte Weltlitteratur. Er weiß im klassischen Altertum
so genau Bescheid, wie in dem modernen Frankreich und Rußland, und niemals
erinnere ich mich -- und ich glaube, aus ziemlich eingehender Kenntnis seiner
Schriften urteilen zu können --, daß er, der Autodidakt, der Jahre hindurch
ein Leben voller Entbehrungen, gewissermaßen ein Zigeunerleben mit Weib
und Kindern zu führen gezwungen war, sich in irgend einem Gebiete mensch¬
lichen Wissens eine Blöße gegeben hätte.

Nicht minder liebevoll als die hervorragendsten oder aus irgend einem
Grunde merkwürdigen Künstler Berlins hat Pietsch bei so lebendigem Inter¬
esse an allen Erscheinungen des Kulturlebens Dichter, Schriftsteller, Musiker,
Politiker, sonderbare Virtuose", gesellschaftliche Originale, excentrische Persön¬
lichkeiten u. a. in. gezeichnet, oft mit Enthusiasmus, bisweilen auch mit feinem
Humor oder mit leichten satirischen Strichen. Turgenjew, zu dessen ersten
und leidenschaftlichsten Bewunderern er gehörte, seine Freundin, die Viardot-
Gareia, Lothar Bucher, Ferdinand Lassalle, Bruno Bauer, der Diogenes des
neunzehnten Jahrhunderts, ein Musterbild entbehrungsfähigen und -freudigen
Starrsinns, Adolf Stahr, der Freihändler Prince-Smith, sein Gesinnungsgenosse
Julius Faucher, die Gräfin Hatzfeldt, Gottfried Keller, Theodor Storm, Paul
Heyse, Titus Ulrich treten aus dieser Galerie in besonders scharfen Umrissen
hervor. Man bedauert nur die Beschränkung, die sich der Verfasser auferlegt hat.
Denn die sechziger und siebziger Jahre, die Zeit seiner ausgedehnten Reisen,
haben ihn mit einer noch größern Zahl von bedeutenden Persönlichkeiten in
Berührung gebracht, die wir doch auch von seiner Feder gezeichnet zu sehen
wünschten. Aber auch für die verhältnismäßig kleine Gabe schulden wir ihm
großen Dank. Sie ist, weil aus eigner Personen- nud Sachkenntnis herauf¬
geschrieben, wertvoller als eine systematische Geschichte des geistigen Lebens in
Berlin, die etwa ein gelehrter Geschichtschreiber aus abgeleiteten Quellen zu
konstruiren versuchte.




ivie Ludwig pietsch Schriftsteller wurde

seinen Erinnerungen liest, mit welchem Jubel er den Erwerb von Goethes
Werken begrüßte, deren Kosten er sich von einem Buchhändler, der ihm Auf¬
träge zu kleinen Illustrationen gab, nach und nach von seinen kärglich be¬
messenen Honoraren abziehen ließ. Was er aus diese Weise an Büchern er¬
warb, ist ihm durch fleißiges Lesen auch wirklich zum Besitz geworden. Noch
heute ist die Kraft seines Gedächtnisses staunenswert, das über einen stets
bereiten Zitatenschatz von beträchtlichem Umfange gebietet. Seine Belesenheit
erstreckt sich über die gesamte Weltlitteratur. Er weiß im klassischen Altertum
so genau Bescheid, wie in dem modernen Frankreich und Rußland, und niemals
erinnere ich mich — und ich glaube, aus ziemlich eingehender Kenntnis seiner
Schriften urteilen zu können —, daß er, der Autodidakt, der Jahre hindurch
ein Leben voller Entbehrungen, gewissermaßen ein Zigeunerleben mit Weib
und Kindern zu führen gezwungen war, sich in irgend einem Gebiete mensch¬
lichen Wissens eine Blöße gegeben hätte.

Nicht minder liebevoll als die hervorragendsten oder aus irgend einem
Grunde merkwürdigen Künstler Berlins hat Pietsch bei so lebendigem Inter¬
esse an allen Erscheinungen des Kulturlebens Dichter, Schriftsteller, Musiker,
Politiker, sonderbare Virtuose», gesellschaftliche Originale, excentrische Persön¬
lichkeiten u. a. in. gezeichnet, oft mit Enthusiasmus, bisweilen auch mit feinem
Humor oder mit leichten satirischen Strichen. Turgenjew, zu dessen ersten
und leidenschaftlichsten Bewunderern er gehörte, seine Freundin, die Viardot-
Gareia, Lothar Bucher, Ferdinand Lassalle, Bruno Bauer, der Diogenes des
neunzehnten Jahrhunderts, ein Musterbild entbehrungsfähigen und -freudigen
Starrsinns, Adolf Stahr, der Freihändler Prince-Smith, sein Gesinnungsgenosse
Julius Faucher, die Gräfin Hatzfeldt, Gottfried Keller, Theodor Storm, Paul
Heyse, Titus Ulrich treten aus dieser Galerie in besonders scharfen Umrissen
hervor. Man bedauert nur die Beschränkung, die sich der Verfasser auferlegt hat.
Denn die sechziger und siebziger Jahre, die Zeit seiner ausgedehnten Reisen,
haben ihn mit einer noch größern Zahl von bedeutenden Persönlichkeiten in
Berührung gebracht, die wir doch auch von seiner Feder gezeichnet zu sehen
wünschten. Aber auch für die verhältnismäßig kleine Gabe schulden wir ihm
großen Dank. Sie ist, weil aus eigner Personen- nud Sachkenntnis herauf¬
geschrieben, wertvoller als eine systematische Geschichte des geistigen Lebens in
Berlin, die etwa ein gelehrter Geschichtschreiber aus abgeleiteten Quellen zu
konstruiren versuchte.




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[0446] ivie Ludwig pietsch Schriftsteller wurde seinen Erinnerungen liest, mit welchem Jubel er den Erwerb von Goethes Werken begrüßte, deren Kosten er sich von einem Buchhändler, der ihm Auf¬ träge zu kleinen Illustrationen gab, nach und nach von seinen kärglich be¬ messenen Honoraren abziehen ließ. Was er aus diese Weise an Büchern er¬ warb, ist ihm durch fleißiges Lesen auch wirklich zum Besitz geworden. Noch heute ist die Kraft seines Gedächtnisses staunenswert, das über einen stets bereiten Zitatenschatz von beträchtlichem Umfange gebietet. Seine Belesenheit erstreckt sich über die gesamte Weltlitteratur. Er weiß im klassischen Altertum so genau Bescheid, wie in dem modernen Frankreich und Rußland, und niemals erinnere ich mich — und ich glaube, aus ziemlich eingehender Kenntnis seiner Schriften urteilen zu können —, daß er, der Autodidakt, der Jahre hindurch ein Leben voller Entbehrungen, gewissermaßen ein Zigeunerleben mit Weib und Kindern zu führen gezwungen war, sich in irgend einem Gebiete mensch¬ lichen Wissens eine Blöße gegeben hätte. Nicht minder liebevoll als die hervorragendsten oder aus irgend einem Grunde merkwürdigen Künstler Berlins hat Pietsch bei so lebendigem Inter¬ esse an allen Erscheinungen des Kulturlebens Dichter, Schriftsteller, Musiker, Politiker, sonderbare Virtuose», gesellschaftliche Originale, excentrische Persön¬ lichkeiten u. a. in. gezeichnet, oft mit Enthusiasmus, bisweilen auch mit feinem Humor oder mit leichten satirischen Strichen. Turgenjew, zu dessen ersten und leidenschaftlichsten Bewunderern er gehörte, seine Freundin, die Viardot- Gareia, Lothar Bucher, Ferdinand Lassalle, Bruno Bauer, der Diogenes des neunzehnten Jahrhunderts, ein Musterbild entbehrungsfähigen und -freudigen Starrsinns, Adolf Stahr, der Freihändler Prince-Smith, sein Gesinnungsgenosse Julius Faucher, die Gräfin Hatzfeldt, Gottfried Keller, Theodor Storm, Paul Heyse, Titus Ulrich treten aus dieser Galerie in besonders scharfen Umrissen hervor. Man bedauert nur die Beschränkung, die sich der Verfasser auferlegt hat. Denn die sechziger und siebziger Jahre, die Zeit seiner ausgedehnten Reisen, haben ihn mit einer noch größern Zahl von bedeutenden Persönlichkeiten in Berührung gebracht, die wir doch auch von seiner Feder gezeichnet zu sehen wünschten. Aber auch für die verhältnismäßig kleine Gabe schulden wir ihm großen Dank. Sie ist, weil aus eigner Personen- nud Sachkenntnis herauf¬ geschrieben, wertvoller als eine systematische Geschichte des geistigen Lebens in Berlin, die etwa ein gelehrter Geschichtschreiber aus abgeleiteten Quellen zu konstruiren versuchte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/446>, abgerufen am 11.05.2024.