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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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wenn überhaupt jemand dafür verantwortlich gemacht werden könnte, dem
Fürsten Bismarck zur Last, und was die Steuergesetzgebung betrifft, so sind
die ersten Miquelschen Gesetze beinahe einstimmig jedenfalls von den Konser¬
vativen angenommen worden, und die jetzigen Miquelschen Steuervvrlagen
bringen dem Grundbesitz sogar eine große Erleichterung durch den Verzicht auf
die staatliche Grundsteuer. Was aber die Zollherabsetzung und die Aufhebung
der Zuckerexportprämien betrifft, so ist der Beweis nicht gebracht, daß diese
die Landwirtschaft ruiniren werden, wenn es mich hundert- und tausendmal
behauptet worden ist. In jedem Falle genügen diese beiden Abweichungen
von der Vismarckschen Wirtschaftspolitik nicht, eine Sehnsucht "ach dem
alten Kurse zu begründen, und was die andern Beschwerden betrifft, so stellen
sie ebenso die Bismarcksche wie die Caprivische Politik unter Anklage. In
keinem Falle kann daher der Ansturm der Konservativen als die Absicht, den
Grafen Caprivi zu stürzen oder eine Lanze zu Gunsten des Fürsten Bismarck
zu brechen, aufgefaßt werden.

Vielmehr gilt auch hier: den Sack schlägt man, aber den Esel meint
man. Der Esel ist der immer weiter um sich greifende demokratisch-freisinnige
Liberalismus, der da hofft, daß bei einer Auflösung des Reichstags sein
Weizen blühen werde. Die Agitationsknnst des Freisinns, der mit seiner Sucht
zu kritisiren, gedankenlose Kreise fast ebenso, wie es die Sozialdemokratie thut,
immer mehr gefangen nimmt und mit seiner einseitigen Kritik der Militärvor¬
lage -- als die offiziöse Presse noch schweigen mußte -- selbst auf gut kon¬
servativ gesinnte Kreise nicht ohne Einfluß geblieben ist, erscheint in der That als
eine dringende Gefahr, wenn ihr nicht beizeiten ein Damm entgegengesetzt wird.
Dies kann freilich nicht durch das Mittel der Gutmütigkeit, des Wohlverhaltens
gegenüber der Regierung erreicht werden, vielmehr bedarf es einer Aktion, die die
Geister ergreift und beherrscht; nur so kann den Wahlen, ob sie nun früher oder später
vollzogen werden, mitHofsnung aufErfvlg entgegengesehen werden. Freilich brechen
die Konservativen oder die "Agrarier" damit keineswegs eine Lanze für die
Regierung: sie wollen gar nicht mehr als eine -- wie der Freisinn immer
spöttisch bemerkt -- von der Negierung ivmmandirte und abhängige Hilfs-
truppe erscheinen; sie wollen durch die Mobilmachung ihrer Scharen das kon¬
servative Schwergewicht im Parlament verstärken, um mit diesem Gewicht
auch die Politik der Regierung zu beeinflussen und diese Politik in eine Rich¬
tung zu lenken, die die Interessen der Landwirtschaft energisch vertritt und
fördert.

Damit ist von neuem der alte Gegensatz von Liberalismus und Konser¬
vatismus, den man dnrch die praktische nationale Politik Bismarcks und die
"Kartellpolitik" für gemildert und beseitigt hielt, in seiner ganzen Schärfe
ausgesprochen. Aber es wäre thöricht, nunmehr eine "Reaktion," "mittelalter¬
liche Zustände," "Junkerherrschaft" u. s. w. vorauszusagen; auch ist der mit


wenn überhaupt jemand dafür verantwortlich gemacht werden könnte, dem
Fürsten Bismarck zur Last, und was die Steuergesetzgebung betrifft, so sind
die ersten Miquelschen Gesetze beinahe einstimmig jedenfalls von den Konser¬
vativen angenommen worden, und die jetzigen Miquelschen Steuervvrlagen
bringen dem Grundbesitz sogar eine große Erleichterung durch den Verzicht auf
die staatliche Grundsteuer. Was aber die Zollherabsetzung und die Aufhebung
der Zuckerexportprämien betrifft, so ist der Beweis nicht gebracht, daß diese
die Landwirtschaft ruiniren werden, wenn es mich hundert- und tausendmal
behauptet worden ist. In jedem Falle genügen diese beiden Abweichungen
von der Vismarckschen Wirtschaftspolitik nicht, eine Sehnsucht «ach dem
alten Kurse zu begründen, und was die andern Beschwerden betrifft, so stellen
sie ebenso die Bismarcksche wie die Caprivische Politik unter Anklage. In
keinem Falle kann daher der Ansturm der Konservativen als die Absicht, den
Grafen Caprivi zu stürzen oder eine Lanze zu Gunsten des Fürsten Bismarck
zu brechen, aufgefaßt werden.

Vielmehr gilt auch hier: den Sack schlägt man, aber den Esel meint
man. Der Esel ist der immer weiter um sich greifende demokratisch-freisinnige
Liberalismus, der da hofft, daß bei einer Auflösung des Reichstags sein
Weizen blühen werde. Die Agitationsknnst des Freisinns, der mit seiner Sucht
zu kritisiren, gedankenlose Kreise fast ebenso, wie es die Sozialdemokratie thut,
immer mehr gefangen nimmt und mit seiner einseitigen Kritik der Militärvor¬
lage — als die offiziöse Presse noch schweigen mußte — selbst auf gut kon¬
servativ gesinnte Kreise nicht ohne Einfluß geblieben ist, erscheint in der That als
eine dringende Gefahr, wenn ihr nicht beizeiten ein Damm entgegengesetzt wird.
Dies kann freilich nicht durch das Mittel der Gutmütigkeit, des Wohlverhaltens
gegenüber der Regierung erreicht werden, vielmehr bedarf es einer Aktion, die die
Geister ergreift und beherrscht; nur so kann den Wahlen, ob sie nun früher oder später
vollzogen werden, mitHofsnung aufErfvlg entgegengesehen werden. Freilich brechen
die Konservativen oder die „Agrarier" damit keineswegs eine Lanze für die
Regierung: sie wollen gar nicht mehr als eine — wie der Freisinn immer
spöttisch bemerkt — von der Negierung ivmmandirte und abhängige Hilfs-
truppe erscheinen; sie wollen durch die Mobilmachung ihrer Scharen das kon¬
servative Schwergewicht im Parlament verstärken, um mit diesem Gewicht
auch die Politik der Regierung zu beeinflussen und diese Politik in eine Rich¬
tung zu lenken, die die Interessen der Landwirtschaft energisch vertritt und
fördert.

Damit ist von neuem der alte Gegensatz von Liberalismus und Konser¬
vatismus, den man dnrch die praktische nationale Politik Bismarcks und die
„Kartellpolitik" für gemildert und beseitigt hielt, in seiner ganzen Schärfe
ausgesprochen. Aber es wäre thöricht, nunmehr eine „Reaktion," „mittelalter¬
liche Zustände," „Junkerherrschaft" u. s. w. vorauszusagen; auch ist der mit


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[0457] wenn überhaupt jemand dafür verantwortlich gemacht werden könnte, dem Fürsten Bismarck zur Last, und was die Steuergesetzgebung betrifft, so sind die ersten Miquelschen Gesetze beinahe einstimmig jedenfalls von den Konser¬ vativen angenommen worden, und die jetzigen Miquelschen Steuervvrlagen bringen dem Grundbesitz sogar eine große Erleichterung durch den Verzicht auf die staatliche Grundsteuer. Was aber die Zollherabsetzung und die Aufhebung der Zuckerexportprämien betrifft, so ist der Beweis nicht gebracht, daß diese die Landwirtschaft ruiniren werden, wenn es mich hundert- und tausendmal behauptet worden ist. In jedem Falle genügen diese beiden Abweichungen von der Vismarckschen Wirtschaftspolitik nicht, eine Sehnsucht «ach dem alten Kurse zu begründen, und was die andern Beschwerden betrifft, so stellen sie ebenso die Bismarcksche wie die Caprivische Politik unter Anklage. In keinem Falle kann daher der Ansturm der Konservativen als die Absicht, den Grafen Caprivi zu stürzen oder eine Lanze zu Gunsten des Fürsten Bismarck zu brechen, aufgefaßt werden. Vielmehr gilt auch hier: den Sack schlägt man, aber den Esel meint man. Der Esel ist der immer weiter um sich greifende demokratisch-freisinnige Liberalismus, der da hofft, daß bei einer Auflösung des Reichstags sein Weizen blühen werde. Die Agitationsknnst des Freisinns, der mit seiner Sucht zu kritisiren, gedankenlose Kreise fast ebenso, wie es die Sozialdemokratie thut, immer mehr gefangen nimmt und mit seiner einseitigen Kritik der Militärvor¬ lage — als die offiziöse Presse noch schweigen mußte — selbst auf gut kon¬ servativ gesinnte Kreise nicht ohne Einfluß geblieben ist, erscheint in der That als eine dringende Gefahr, wenn ihr nicht beizeiten ein Damm entgegengesetzt wird. Dies kann freilich nicht durch das Mittel der Gutmütigkeit, des Wohlverhaltens gegenüber der Regierung erreicht werden, vielmehr bedarf es einer Aktion, die die Geister ergreift und beherrscht; nur so kann den Wahlen, ob sie nun früher oder später vollzogen werden, mitHofsnung aufErfvlg entgegengesehen werden. Freilich brechen die Konservativen oder die „Agrarier" damit keineswegs eine Lanze für die Regierung: sie wollen gar nicht mehr als eine — wie der Freisinn immer spöttisch bemerkt — von der Negierung ivmmandirte und abhängige Hilfs- truppe erscheinen; sie wollen durch die Mobilmachung ihrer Scharen das kon¬ servative Schwergewicht im Parlament verstärken, um mit diesem Gewicht auch die Politik der Regierung zu beeinflussen und diese Politik in eine Rich¬ tung zu lenken, die die Interessen der Landwirtschaft energisch vertritt und fördert. Damit ist von neuem der alte Gegensatz von Liberalismus und Konser¬ vatismus, den man dnrch die praktische nationale Politik Bismarcks und die „Kartellpolitik" für gemildert und beseitigt hielt, in seiner ganzen Schärfe ausgesprochen. Aber es wäre thöricht, nunmehr eine „Reaktion," „mittelalter¬ liche Zustände," „Junkerherrschaft" u. s. w. vorauszusagen; auch ist der mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/457>, abgerufen am 13.05.2024.