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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Lin Kapitel von deutscher Lyrik

"Jammcrschrei eines brvtneidischen Konzertnnternehmers," "Kasimir und Ade-
laide, oder das verhängnisvolle Doppeldreirad," "Ans König Betts Liebes¬
liedern," "Des Vaters Hoffen, nenzeitliches Familiengemälde," "Das höllische
Hotel," "Das Neisefeuilleton," anch einiges aus der "neuesten Zoolyrik" und
"Nrvolapttk."

Als ob es nicht genug wäre an der bunten Mannichfaltigkeit einheimischer
lyrisch durchhauchtcr Epik, die sich zur Abwechslung in eine episch angehauchte
Lyrik verwandelt, sind auch Übersetzer und Bearbeiter fremder erzählender Dich¬
tungen fleißig bei der Arbeit. Das bedeutendste neuere Zeugnis dieses Über-
setzerfleißeS ist die proveneulische Dichtung Mirvio von Frederi Mistral,
deutsch von August Bertuch (Straßburg, Karl I. Trübner), ein umfang¬
reiches erzählendes Gedicht des hervorragendste" Vertreters der nenprovenya-
lischen Poesie. So viel sich beim ersten Überblick des formell vollendeten Ge¬
dichts (das anch eine formschöne und sprachlich vollendete Übertragung er¬
fahren hat) erkennen läßt, einigen sich in Mistral und namentlich in dessen
"Mirmo" Einwirkungen Homers und Dantes, altproven?alischer Romantik,
volkstümlicher Märchenpoesie mit unmittelbaren Eindrücken des ländlichen und
des kirchlichen Lebens der heutigen Provence zu einem wundersamen Ganzen,
dessen tiefere Bedeutung und dessen rein künstlerischer Gehalt sich erst bei ein¬
gehender Beschäftigung mit der eigentümlichen Vvrstellungswelt des Dichters
ergründen lassen werden. Jedenfalls steht die Empfindung, die Phantasie und
die Darstellungsweise dieses Prvvenyalen in einem Gegensatz zur Pariser Sitte
und zur französischen Normalknltur, der um so überraschender ist, als er mit
dem südfranzösischen Mtramvntanismus keineswegs schlechthin zusammenfällt.
Das Schönste scheinen uns die prächtigen, farbensatten Schilderungen aus dem
Volksleben der Provence, über denen das helle Licht des Südens glänzt; wer
den Gang des alten Körbebinders mit seinem Sohne Vineen zum Ziegelhof
nutgeht, wer die Farcindole der Schnitter am Schlüsse des siebenten Gesanges
tanzen sieht, ja wer nur die schönen Eingangsstrophen des Gedichts liest, der
weiß, daß Frederi Mistral ohne Frage ein Dichter im tiefern Sinne des Wortes
ist. Die Übertragung ist Paul Heyse, "dem Hochmeister des erlauchten Bundes
deutscher Dichtkunst und romanischer Sprachwissenschaft," gewidmet; wir haben
Ursache, zu fürchten, daß die Teilnahme für Mistral auf die Kreise der roma¬
nischen sprachkundigen beschränkt bleiben wird. Und in der That, wie soll
zuletzt auch der Teilnehmendste, der poetisch Empfänglichste dem Ansturm der
Erscheinungen standhalten, von dem selbst dieses eine Kapitel von deutscher
Lyrik Zeugnis ablegt!




Lin Kapitel von deutscher Lyrik

„Jammcrschrei eines brvtneidischen Konzertnnternehmers," „Kasimir und Ade-
laide, oder das verhängnisvolle Doppeldreirad," „Ans König Betts Liebes¬
liedern," „Des Vaters Hoffen, nenzeitliches Familiengemälde," „Das höllische
Hotel," „Das Neisefeuilleton," anch einiges aus der „neuesten Zoolyrik" und
„Nrvolapttk."

Als ob es nicht genug wäre an der bunten Mannichfaltigkeit einheimischer
lyrisch durchhauchtcr Epik, die sich zur Abwechslung in eine episch angehauchte
Lyrik verwandelt, sind auch Übersetzer und Bearbeiter fremder erzählender Dich¬
tungen fleißig bei der Arbeit. Das bedeutendste neuere Zeugnis dieses Über-
setzerfleißeS ist die proveneulische Dichtung Mirvio von Frederi Mistral,
deutsch von August Bertuch (Straßburg, Karl I. Trübner), ein umfang¬
reiches erzählendes Gedicht des hervorragendste» Vertreters der nenprovenya-
lischen Poesie. So viel sich beim ersten Überblick des formell vollendeten Ge¬
dichts (das anch eine formschöne und sprachlich vollendete Übertragung er¬
fahren hat) erkennen läßt, einigen sich in Mistral und namentlich in dessen
„Mirmo" Einwirkungen Homers und Dantes, altproven?alischer Romantik,
volkstümlicher Märchenpoesie mit unmittelbaren Eindrücken des ländlichen und
des kirchlichen Lebens der heutigen Provence zu einem wundersamen Ganzen,
dessen tiefere Bedeutung und dessen rein künstlerischer Gehalt sich erst bei ein¬
gehender Beschäftigung mit der eigentümlichen Vvrstellungswelt des Dichters
ergründen lassen werden. Jedenfalls steht die Empfindung, die Phantasie und
die Darstellungsweise dieses Prvvenyalen in einem Gegensatz zur Pariser Sitte
und zur französischen Normalknltur, der um so überraschender ist, als er mit
dem südfranzösischen Mtramvntanismus keineswegs schlechthin zusammenfällt.
Das Schönste scheinen uns die prächtigen, farbensatten Schilderungen aus dem
Volksleben der Provence, über denen das helle Licht des Südens glänzt; wer
den Gang des alten Körbebinders mit seinem Sohne Vineen zum Ziegelhof
nutgeht, wer die Farcindole der Schnitter am Schlüsse des siebenten Gesanges
tanzen sieht, ja wer nur die schönen Eingangsstrophen des Gedichts liest, der
weiß, daß Frederi Mistral ohne Frage ein Dichter im tiefern Sinne des Wortes
ist. Die Übertragung ist Paul Heyse, „dem Hochmeister des erlauchten Bundes
deutscher Dichtkunst und romanischer Sprachwissenschaft," gewidmet; wir haben
Ursache, zu fürchten, daß die Teilnahme für Mistral auf die Kreise der roma¬
nischen sprachkundigen beschränkt bleiben wird. Und in der That, wie soll
zuletzt auch der Teilnehmendste, der poetisch Empfänglichste dem Ansturm der
Erscheinungen standhalten, von dem selbst dieses eine Kapitel von deutscher
Lyrik Zeugnis ablegt!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/495>, abgerufen am 13.05.2024.