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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Wucher und Abzahlung

Übels vor allem in der Beseitigung jener Mißstände zu erblicken sein, in der
weitern Entwicklung der Vereins- und Genossenschaftsthätigkeit, in der För¬
derung der wirtschaftlichen Verhältnisse, in der Hebung von Bildung und Ge¬
sittung in den vom Wucher heimgesuchten Gegenden, so wird doch der Gesetz¬
gebung die Hauptarbeit an der Erreichung jener Ziele zufallen, freilich nach
einer andern Richtung, als sie es jetzt in willkürlicher Weise versucht hat.

Das Neichsgesetz über den Wucher vom 24. Mai 1880 hat den Wncher-
begriff dahin definirt, daß es ihn als die "Ausbeutung der Notlage und des
Leichtsinns und der Unerfahrenheit eines andern" bezeichnet und als That¬
bestand erfordert, daß "nach den Umständen des Falles die (zugesicherten oder
gewährten) Vermögensvorteile in auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung
stehen." Daß das Gesetz in wirtschaftlicher Hinsicht die segensreichen Wirkungen
geäußert habe, die man von ihm erwartete, das es den Darlehns- und Stun¬
dungswucher, auf den es sich beschränkt, stark zurückgedrängt oder vermindert
habe, das wird durch die Zahlen aufs bündigste widerlegt. Die Zahl der
seit dem Bestehen des Gesetzes zur Verhandlung gekommnen Anklagen wegen
Wuchers ist nur sehr genug, der Prozentsatz der Freisprechungen unverhältnis¬
mäßig hoch gewesen. In den rechtskräftig entschiednen Strafsachen wegen
Wuchers betrug:

im Jahre die Zahl der Angeklagten der Verurteilten der Freigesprochnen
18821769873
188315593"1
13841326170
1885993762
13861044262
1887813645
188882L645
1889964155
1890642242

So deutlich diese Zusammenstellung auch zeigt, wie wenig die Gerichte, selbst
bei größter Ausdehnung der im Gesetze enthaltenen vagen Begriffe, in den
Stand kommen, dem sittlich verwerflichen und verderblichen Treiben der
Wucherer Schranken zu ziehen, so hat sich die jetzt vorliegende Novelle doch
nicht gescheut, mit denselben Mitteln weiterzuarbeiten und den ohnehin genügend
dehnbaren Vorschriften eine Fassung zu geben, daß selbst die Kölnische Zeitung,
der man doch wahrlich nicht manchesterliche Neigungen nachsagen kann, nach
Abwägung des Schadens und des Nutzens, den ein solches Gesetz anstiften
kann, zu dem Schluß kommt, daß die Vorteile, die man von dieser neuen
Vorschrift hofft, zu den mit Sicherheit für den ehrlichen Handel und Verkehr
zu erwartenden Nachteilen in einem "auffälligen Mißverhältnis" stehen würden.

Bisher wurde bestraft, wer sich "für" ein Darlehen oder die Stundung
einer Forderung wucherische Vermögensvorteile versprechen oder gewähren


Wucher und Abzahlung

Übels vor allem in der Beseitigung jener Mißstände zu erblicken sein, in der
weitern Entwicklung der Vereins- und Genossenschaftsthätigkeit, in der För¬
derung der wirtschaftlichen Verhältnisse, in der Hebung von Bildung und Ge¬
sittung in den vom Wucher heimgesuchten Gegenden, so wird doch der Gesetz¬
gebung die Hauptarbeit an der Erreichung jener Ziele zufallen, freilich nach
einer andern Richtung, als sie es jetzt in willkürlicher Weise versucht hat.

Das Neichsgesetz über den Wucher vom 24. Mai 1880 hat den Wncher-
begriff dahin definirt, daß es ihn als die „Ausbeutung der Notlage und des
Leichtsinns und der Unerfahrenheit eines andern" bezeichnet und als That¬
bestand erfordert, daß „nach den Umständen des Falles die (zugesicherten oder
gewährten) Vermögensvorteile in auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung
stehen." Daß das Gesetz in wirtschaftlicher Hinsicht die segensreichen Wirkungen
geäußert habe, die man von ihm erwartete, das es den Darlehns- und Stun¬
dungswucher, auf den es sich beschränkt, stark zurückgedrängt oder vermindert
habe, das wird durch die Zahlen aufs bündigste widerlegt. Die Zahl der
seit dem Bestehen des Gesetzes zur Verhandlung gekommnen Anklagen wegen
Wuchers ist nur sehr genug, der Prozentsatz der Freisprechungen unverhältnis¬
mäßig hoch gewesen. In den rechtskräftig entschiednen Strafsachen wegen
Wuchers betrug:

im Jahre die Zahl der Angeklagten der Verurteilten der Freigesprochnen
18821769873
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13841326170
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188882L645
1889964155
1890642242

So deutlich diese Zusammenstellung auch zeigt, wie wenig die Gerichte, selbst
bei größter Ausdehnung der im Gesetze enthaltenen vagen Begriffe, in den
Stand kommen, dem sittlich verwerflichen und verderblichen Treiben der
Wucherer Schranken zu ziehen, so hat sich die jetzt vorliegende Novelle doch
nicht gescheut, mit denselben Mitteln weiterzuarbeiten und den ohnehin genügend
dehnbaren Vorschriften eine Fassung zu geben, daß selbst die Kölnische Zeitung,
der man doch wahrlich nicht manchesterliche Neigungen nachsagen kann, nach
Abwägung des Schadens und des Nutzens, den ein solches Gesetz anstiften
kann, zu dem Schluß kommt, daß die Vorteile, die man von dieser neuen
Vorschrift hofft, zu den mit Sicherheit für den ehrlichen Handel und Verkehr
zu erwartenden Nachteilen in einem „auffälligen Mißverhältnis" stehen würden.

Bisher wurde bestraft, wer sich „für" ein Darlehen oder die Stundung
einer Forderung wucherische Vermögensvorteile versprechen oder gewähren


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[0527] Wucher und Abzahlung Übels vor allem in der Beseitigung jener Mißstände zu erblicken sein, in der weitern Entwicklung der Vereins- und Genossenschaftsthätigkeit, in der För¬ derung der wirtschaftlichen Verhältnisse, in der Hebung von Bildung und Ge¬ sittung in den vom Wucher heimgesuchten Gegenden, so wird doch der Gesetz¬ gebung die Hauptarbeit an der Erreichung jener Ziele zufallen, freilich nach einer andern Richtung, als sie es jetzt in willkürlicher Weise versucht hat. Das Neichsgesetz über den Wucher vom 24. Mai 1880 hat den Wncher- begriff dahin definirt, daß es ihn als die „Ausbeutung der Notlage und des Leichtsinns und der Unerfahrenheit eines andern" bezeichnet und als That¬ bestand erfordert, daß „nach den Umständen des Falles die (zugesicherten oder gewährten) Vermögensvorteile in auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung stehen." Daß das Gesetz in wirtschaftlicher Hinsicht die segensreichen Wirkungen geäußert habe, die man von ihm erwartete, das es den Darlehns- und Stun¬ dungswucher, auf den es sich beschränkt, stark zurückgedrängt oder vermindert habe, das wird durch die Zahlen aufs bündigste widerlegt. Die Zahl der seit dem Bestehen des Gesetzes zur Verhandlung gekommnen Anklagen wegen Wuchers ist nur sehr genug, der Prozentsatz der Freisprechungen unverhältnis¬ mäßig hoch gewesen. In den rechtskräftig entschiednen Strafsachen wegen Wuchers betrug: im Jahre die Zahl der Angeklagten der Verurteilten der Freigesprochnen 18821769873 188315593«1 13841326170 1885993762 13861044262 1887813645 188882L645 1889964155 1890642242 So deutlich diese Zusammenstellung auch zeigt, wie wenig die Gerichte, selbst bei größter Ausdehnung der im Gesetze enthaltenen vagen Begriffe, in den Stand kommen, dem sittlich verwerflichen und verderblichen Treiben der Wucherer Schranken zu ziehen, so hat sich die jetzt vorliegende Novelle doch nicht gescheut, mit denselben Mitteln weiterzuarbeiten und den ohnehin genügend dehnbaren Vorschriften eine Fassung zu geben, daß selbst die Kölnische Zeitung, der man doch wahrlich nicht manchesterliche Neigungen nachsagen kann, nach Abwägung des Schadens und des Nutzens, den ein solches Gesetz anstiften kann, zu dem Schluß kommt, daß die Vorteile, die man von dieser neuen Vorschrift hofft, zu den mit Sicherheit für den ehrlichen Handel und Verkehr zu erwartenden Nachteilen in einem „auffälligen Mißverhältnis" stehen würden. Bisher wurde bestraft, wer sich „für" ein Darlehen oder die Stundung einer Forderung wucherische Vermögensvorteile versprechen oder gewähren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/527>, abgerufen am 17.06.2024.