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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Darlegungen zur materiellen Seite
der Sache sind so zahlreich und so gründlich gemacht worden, daß wir sie
uns hier ersparen können.

Es giebt Imponderabilien, die auf keine Wngschale gelegt werden können,
aus denen aber doch das Leben der Völker seine eigentliche Kraft schöpft.
Die Erfahrung lehrt uns, daß noch kein Volk an der Selbstauferlegung auch
der größten Lasten zu Grunde gegangen ist, wohl aber, daß das Verderben
einzog, sobald man anfing, die vermeintlich ermüdeten Glieder zu einem be¬
haglichem Dasein zu strecken. Nur das Volk hat wahrhaften Anspruch auf
ein unabhängiges Leben, das in freiester Selbstbestimmung mit immer er¬
neuerter Auffrischung seiner sittlichen Kräfte in den Kampf ums Dasein hinab¬
steigt. Wenn nach der Darwinschen Lehre bei den Geschlechtern der Tiere
die möglichste Ausbildung der körperlichen Eigenschaften den Sieg verleiht, so
liegt für die mit Vernunft begabte Menschheit die Entscheidung in der höchsten
Potenzirung der sittlichen Freiheit. Dabei muß es bleiben trotz Friedrich
Nietzsche und allen, die mit ihm auf einer Fahrt sind. Jedenfalls hat in dem
noch immer von allen gegen alle geführten Kriege das Volk am schlechtesten
bestanden, das die Güter des Lebens bloß zum guten Auskommen sammelte.

Von höchster Stelle ist die Mahnung ergangen, den Blick für die Zu¬
kunft aus der Betrachtung der Vergangenheit zu schärfen. Es war eine Auf¬
forderung, die mit vollem Rechte uicht bloß an die Schule und deren Thätig¬
keit gerichtet war, sondern die sich die ganze Nation in allen ihren Ständen
und Berufsarten, in allen ihren Teilen und Abstufungen zu Gemüte führen
sollte. Der geschichtliche Sinn fehlt in dem Volke der Denker an allen Ecken
und Enden. Es ist eine Thatsache, daß überall, wo die Thätigkeit des Volks,
sei es im einzelnen oder in Verbänden, an die Öffentlichkeit tritt, sie nicht
von den vernünftigen Erwägungen ausgeht, die man als Abstraktion aus der
Geschichte bezeichnen könnte, sondern daß sie von den Reizen und Antrieben
bestimmt wird, die gerade im Augenblicke wirksam sind. Der menschlichen
Natur nach ist das nun zwar in der Regel das richtige; im gewöhnlichen
Laufe der Dinge wird sich, wenn Menschen zu handeln haben, keine weite
Ausschau nach den Ideen halten lassen, sondern das Leben wird sich nach
den augenblicklich bestimmenden Antrieben und den gebietenden Forderungen
strecken, ohne daß es gleich in eine gefahrvolle Entfernung von der Zweck¬
mäßigkeit gerät, die, man mag sagen, was man will, doch immer der Grund
und die Voraussetzung aller menschlichen Dinge bleibt. Aber wenn auch der
tägliche Kurs mit Recht von dem Gesetze der gewohnheitsmäßigen Praxis
bestimmt wird, so giebt es doch Dinge von hervorragender Wichtigkeit, die
niemals ohne den Hinblick auf das allgemeine behandelt werden sollten. Alle
Vergangenheit, in die unser Blick hineinfüllt, weist uns auf ein solches Ver¬
fahren hin. Entweder beriefen sich die Gesetzgeber der ältesten Zeiten auf


Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Darlegungen zur materiellen Seite
der Sache sind so zahlreich und so gründlich gemacht worden, daß wir sie
uns hier ersparen können.

Es giebt Imponderabilien, die auf keine Wngschale gelegt werden können,
aus denen aber doch das Leben der Völker seine eigentliche Kraft schöpft.
Die Erfahrung lehrt uns, daß noch kein Volk an der Selbstauferlegung auch
der größten Lasten zu Grunde gegangen ist, wohl aber, daß das Verderben
einzog, sobald man anfing, die vermeintlich ermüdeten Glieder zu einem be¬
haglichem Dasein zu strecken. Nur das Volk hat wahrhaften Anspruch auf
ein unabhängiges Leben, das in freiester Selbstbestimmung mit immer er¬
neuerter Auffrischung seiner sittlichen Kräfte in den Kampf ums Dasein hinab¬
steigt. Wenn nach der Darwinschen Lehre bei den Geschlechtern der Tiere
die möglichste Ausbildung der körperlichen Eigenschaften den Sieg verleiht, so
liegt für die mit Vernunft begabte Menschheit die Entscheidung in der höchsten
Potenzirung der sittlichen Freiheit. Dabei muß es bleiben trotz Friedrich
Nietzsche und allen, die mit ihm auf einer Fahrt sind. Jedenfalls hat in dem
noch immer von allen gegen alle geführten Kriege das Volk am schlechtesten
bestanden, das die Güter des Lebens bloß zum guten Auskommen sammelte.

Von höchster Stelle ist die Mahnung ergangen, den Blick für die Zu¬
kunft aus der Betrachtung der Vergangenheit zu schärfen. Es war eine Auf¬
forderung, die mit vollem Rechte uicht bloß an die Schule und deren Thätig¬
keit gerichtet war, sondern die sich die ganze Nation in allen ihren Ständen
und Berufsarten, in allen ihren Teilen und Abstufungen zu Gemüte führen
sollte. Der geschichtliche Sinn fehlt in dem Volke der Denker an allen Ecken
und Enden. Es ist eine Thatsache, daß überall, wo die Thätigkeit des Volks,
sei es im einzelnen oder in Verbänden, an die Öffentlichkeit tritt, sie nicht
von den vernünftigen Erwägungen ausgeht, die man als Abstraktion aus der
Geschichte bezeichnen könnte, sondern daß sie von den Reizen und Antrieben
bestimmt wird, die gerade im Augenblicke wirksam sind. Der menschlichen
Natur nach ist das nun zwar in der Regel das richtige; im gewöhnlichen
Laufe der Dinge wird sich, wenn Menschen zu handeln haben, keine weite
Ausschau nach den Ideen halten lassen, sondern das Leben wird sich nach
den augenblicklich bestimmenden Antrieben und den gebietenden Forderungen
strecken, ohne daß es gleich in eine gefahrvolle Entfernung von der Zweck¬
mäßigkeit gerät, die, man mag sagen, was man will, doch immer der Grund
und die Voraussetzung aller menschlichen Dinge bleibt. Aber wenn auch der
tägliche Kurs mit Recht von dem Gesetze der gewohnheitsmäßigen Praxis
bestimmt wird, so giebt es doch Dinge von hervorragender Wichtigkeit, die
niemals ohne den Hinblick auf das allgemeine behandelt werden sollten. Alle
Vergangenheit, in die unser Blick hineinfüllt, weist uns auf ein solches Ver¬
fahren hin. Entweder beriefen sich die Gesetzgeber der ältesten Zeiten auf


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[0491] Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Darlegungen zur materiellen Seite der Sache sind so zahlreich und so gründlich gemacht worden, daß wir sie uns hier ersparen können. Es giebt Imponderabilien, die auf keine Wngschale gelegt werden können, aus denen aber doch das Leben der Völker seine eigentliche Kraft schöpft. Die Erfahrung lehrt uns, daß noch kein Volk an der Selbstauferlegung auch der größten Lasten zu Grunde gegangen ist, wohl aber, daß das Verderben einzog, sobald man anfing, die vermeintlich ermüdeten Glieder zu einem be¬ haglichem Dasein zu strecken. Nur das Volk hat wahrhaften Anspruch auf ein unabhängiges Leben, das in freiester Selbstbestimmung mit immer er¬ neuerter Auffrischung seiner sittlichen Kräfte in den Kampf ums Dasein hinab¬ steigt. Wenn nach der Darwinschen Lehre bei den Geschlechtern der Tiere die möglichste Ausbildung der körperlichen Eigenschaften den Sieg verleiht, so liegt für die mit Vernunft begabte Menschheit die Entscheidung in der höchsten Potenzirung der sittlichen Freiheit. Dabei muß es bleiben trotz Friedrich Nietzsche und allen, die mit ihm auf einer Fahrt sind. Jedenfalls hat in dem noch immer von allen gegen alle geführten Kriege das Volk am schlechtesten bestanden, das die Güter des Lebens bloß zum guten Auskommen sammelte. Von höchster Stelle ist die Mahnung ergangen, den Blick für die Zu¬ kunft aus der Betrachtung der Vergangenheit zu schärfen. Es war eine Auf¬ forderung, die mit vollem Rechte uicht bloß an die Schule und deren Thätig¬ keit gerichtet war, sondern die sich die ganze Nation in allen ihren Ständen und Berufsarten, in allen ihren Teilen und Abstufungen zu Gemüte führen sollte. Der geschichtliche Sinn fehlt in dem Volke der Denker an allen Ecken und Enden. Es ist eine Thatsache, daß überall, wo die Thätigkeit des Volks, sei es im einzelnen oder in Verbänden, an die Öffentlichkeit tritt, sie nicht von den vernünftigen Erwägungen ausgeht, die man als Abstraktion aus der Geschichte bezeichnen könnte, sondern daß sie von den Reizen und Antrieben bestimmt wird, die gerade im Augenblicke wirksam sind. Der menschlichen Natur nach ist das nun zwar in der Regel das richtige; im gewöhnlichen Laufe der Dinge wird sich, wenn Menschen zu handeln haben, keine weite Ausschau nach den Ideen halten lassen, sondern das Leben wird sich nach den augenblicklich bestimmenden Antrieben und den gebietenden Forderungen strecken, ohne daß es gleich in eine gefahrvolle Entfernung von der Zweck¬ mäßigkeit gerät, die, man mag sagen, was man will, doch immer der Grund und die Voraussetzung aller menschlichen Dinge bleibt. Aber wenn auch der tägliche Kurs mit Recht von dem Gesetze der gewohnheitsmäßigen Praxis bestimmt wird, so giebt es doch Dinge von hervorragender Wichtigkeit, die niemals ohne den Hinblick auf das allgemeine behandelt werden sollten. Alle Vergangenheit, in die unser Blick hineinfüllt, weist uns auf ein solches Ver¬ fahren hin. Entweder beriefen sich die Gesetzgeber der ältesten Zeiten auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/491>, abgerufen am 10.06.2024.