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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

bald als einen hervorragenden religiös-sozialen Charakter der Gegenwart ge¬
priesen. Die landläufigen Litteraturgeschichten dagegen thun ihn ohne Aus¬
nahme mit ein paar nichtssagenden oder thörichten Redensarten ab, obgleich
Richard Wülker wiederholt auf die hervorragende litterarische Bedeutung und
den weitgehenden geistigen und sittlichen Einfluß Kingslchs hingewiesen hat.
Sie wissen gewöhnlich nur zu berichte", daß er der Begründer des Muskel-
chriftentums, ello s-post-lo ol' nru8oula.r Liliristig-nit^, gewesen sei, und zählen
seine Schriften auf, zuweilen mit ganz falscher Datirung und unrichtiger In¬
haltsangabe, sodaß der Verdacht nahe liegt, die Verfasser solcher Litteratur¬
geschichten hätten Kingsleys Romane und Gedichte gar nicht in der Hand
gehabt. Eine Monographie oder auch nur eine zuverlässige litterarische Ab¬
handlung giebt es über diesen geistvollen Tendenzschriststeller, der um littera¬
rischer Bedeutung Bulwer, Dickens und Thackeray kaum "achsteht, in Deutsch¬
land noch nicht, denn der von Max Müller in der Deutschen Rundschau bei
dem Erscheinen von Kingslehs Briefen im Jahre 1877 gelieferte Artikel ist
nichts als ein rhetorisches Feuilleton.

Auch in England hat man erst in den letzten Jahren angefangen, Kingsleh
ohne Voreingenommenheit zu beurteilen und die bahnbrechende Bedeutung
seiner Werke allgemein anzuerkennen. Die von seiner Gattin herausgegebnen
I^ttors Ava Älsrrwriös ot' Iiis I>it'e (übersetzt von M. Sell. Gotha, Perthes,
1879) lassen freilich den Literarhistoriker bei vielen wichtigen Fragen im Stich,
aber Schriften wie die von James I. Ellis in seiner Sammlung Alsir ^vieil
Ä M8Sion (London, Nisbet <K Co., 189V) und die Monographie von M. Kauf¬
mann: LKarles XmAsIsz^, (ZKriMÄU Looialist la Looial Reformer (London,
Methuen Co., 1892) enthalten trotz ihrer theologischen Färbung manches
Lehrreiche und Aufklärende. Von den französischen Kritikern hat sich Emile
Montognt in seinen I^oriviüns nroclsrnos as ki'^n^leterrö. (III. Serie. Paris,
Hachette ^ Co., 1892) mit zwei Romanen Kingsleys eingehend beschäftigt
und eine Fülle seiner Bemerkungen daran geknüpft. Das beste, was über
ihn bis jetzt erschienen ist, ist ein holländisches Werk: (it^rlsL XinAsle^, Zollet"
van I<!U'ni(t,or vn voillcvoMon iric-t LloemIe^inA uit Äjne (ülö8o1irlltöii äoor
v. N. av Vries (Amsterdam, I. H. de Bussy, 1888). Leider wird in diesem
Buche das Urteil des Verfassers durch eine übermäßige Verwendung von
Belegstellen und Zitaten aus Kingleys Werken verwirrt und so das Charakter¬
bild des Dichters in den Hauptzügen verwischt.

Selten ist ein Mensch in seiner öffentlichen Thätigkeit so vielen Ver-
kennnngen, Gehässigkeiten und Augriffe" ausgesetzt gewesen wie Charles Kingsley.
Die litterarische Kritik seiner Zeit tadelte seine Schriften als tendenziös, von
einseitiger Schärfe, unfertig und vo" unkünstlerischer Form. Die Vertreter
der gelehrten Zunft klagten über den Mangel an Objektivität "ut wissenschaft¬
licher Genauigkeit in feinen geschichtlichen Studien. Die Arbeiter und Char-


Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

bald als einen hervorragenden religiös-sozialen Charakter der Gegenwart ge¬
priesen. Die landläufigen Litteraturgeschichten dagegen thun ihn ohne Aus¬
nahme mit ein paar nichtssagenden oder thörichten Redensarten ab, obgleich
Richard Wülker wiederholt auf die hervorragende litterarische Bedeutung und
den weitgehenden geistigen und sittlichen Einfluß Kingslchs hingewiesen hat.
Sie wissen gewöhnlich nur zu berichte», daß er der Begründer des Muskel-
chriftentums, ello s-post-lo ol' nru8oula.r Liliristig-nit^, gewesen sei, und zählen
seine Schriften auf, zuweilen mit ganz falscher Datirung und unrichtiger In¬
haltsangabe, sodaß der Verdacht nahe liegt, die Verfasser solcher Litteratur¬
geschichten hätten Kingsleys Romane und Gedichte gar nicht in der Hand
gehabt. Eine Monographie oder auch nur eine zuverlässige litterarische Ab¬
handlung giebt es über diesen geistvollen Tendenzschriststeller, der um littera¬
rischer Bedeutung Bulwer, Dickens und Thackeray kaum »achsteht, in Deutsch¬
land noch nicht, denn der von Max Müller in der Deutschen Rundschau bei
dem Erscheinen von Kingslehs Briefen im Jahre 1877 gelieferte Artikel ist
nichts als ein rhetorisches Feuilleton.

Auch in England hat man erst in den letzten Jahren angefangen, Kingsleh
ohne Voreingenommenheit zu beurteilen und die bahnbrechende Bedeutung
seiner Werke allgemein anzuerkennen. Die von seiner Gattin herausgegebnen
I^ttors Ava Älsrrwriös ot' Iiis I>it'e (übersetzt von M. Sell. Gotha, Perthes,
1879) lassen freilich den Literarhistoriker bei vielen wichtigen Fragen im Stich,
aber Schriften wie die von James I. Ellis in seiner Sammlung Alsir ^vieil
Ä M8Sion (London, Nisbet <K Co., 189V) und die Monographie von M. Kauf¬
mann: LKarles XmAsIsz^, (ZKriMÄU Looialist la Looial Reformer (London,
Methuen Co., 1892) enthalten trotz ihrer theologischen Färbung manches
Lehrreiche und Aufklärende. Von den französischen Kritikern hat sich Emile
Montognt in seinen I^oriviüns nroclsrnos as ki'^n^leterrö. (III. Serie. Paris,
Hachette ^ Co., 1892) mit zwei Romanen Kingsleys eingehend beschäftigt
und eine Fülle seiner Bemerkungen daran geknüpft. Das beste, was über
ihn bis jetzt erschienen ist, ist ein holländisches Werk: (it^rlsL XinAsle^, Zollet»
van I<!U'ni(t,or vn voillcvoMon iric-t LloemIe^inA uit Äjne (ülö8o1irlltöii äoor
v. N. av Vries (Amsterdam, I. H. de Bussy, 1888). Leider wird in diesem
Buche das Urteil des Verfassers durch eine übermäßige Verwendung von
Belegstellen und Zitaten aus Kingleys Werken verwirrt und so das Charakter¬
bild des Dichters in den Hauptzügen verwischt.

Selten ist ein Mensch in seiner öffentlichen Thätigkeit so vielen Ver-
kennnngen, Gehässigkeiten und Augriffe» ausgesetzt gewesen wie Charles Kingsley.
Die litterarische Kritik seiner Zeit tadelte seine Schriften als tendenziös, von
einseitiger Schärfe, unfertig und vo» unkünstlerischer Form. Die Vertreter
der gelehrten Zunft klagten über den Mangel an Objektivität »ut wissenschaft¬
licher Genauigkeit in feinen geschichtlichen Studien. Die Arbeiter und Char-


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[0320] Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer bald als einen hervorragenden religiös-sozialen Charakter der Gegenwart ge¬ priesen. Die landläufigen Litteraturgeschichten dagegen thun ihn ohne Aus¬ nahme mit ein paar nichtssagenden oder thörichten Redensarten ab, obgleich Richard Wülker wiederholt auf die hervorragende litterarische Bedeutung und den weitgehenden geistigen und sittlichen Einfluß Kingslchs hingewiesen hat. Sie wissen gewöhnlich nur zu berichte», daß er der Begründer des Muskel- chriftentums, ello s-post-lo ol' nru8oula.r Liliristig-nit^, gewesen sei, und zählen seine Schriften auf, zuweilen mit ganz falscher Datirung und unrichtiger In¬ haltsangabe, sodaß der Verdacht nahe liegt, die Verfasser solcher Litteratur¬ geschichten hätten Kingsleys Romane und Gedichte gar nicht in der Hand gehabt. Eine Monographie oder auch nur eine zuverlässige litterarische Ab¬ handlung giebt es über diesen geistvollen Tendenzschriststeller, der um littera¬ rischer Bedeutung Bulwer, Dickens und Thackeray kaum »achsteht, in Deutsch¬ land noch nicht, denn der von Max Müller in der Deutschen Rundschau bei dem Erscheinen von Kingslehs Briefen im Jahre 1877 gelieferte Artikel ist nichts als ein rhetorisches Feuilleton. Auch in England hat man erst in den letzten Jahren angefangen, Kingsleh ohne Voreingenommenheit zu beurteilen und die bahnbrechende Bedeutung seiner Werke allgemein anzuerkennen. Die von seiner Gattin herausgegebnen I^ttors Ava Älsrrwriös ot' Iiis I>it'e (übersetzt von M. Sell. Gotha, Perthes, 1879) lassen freilich den Literarhistoriker bei vielen wichtigen Fragen im Stich, aber Schriften wie die von James I. Ellis in seiner Sammlung Alsir ^vieil Ä M8Sion (London, Nisbet <K Co., 189V) und die Monographie von M. Kauf¬ mann: LKarles XmAsIsz^, (ZKriMÄU Looialist la Looial Reformer (London, Methuen Co., 1892) enthalten trotz ihrer theologischen Färbung manches Lehrreiche und Aufklärende. Von den französischen Kritikern hat sich Emile Montognt in seinen I^oriviüns nroclsrnos as ki'^n^leterrö. (III. Serie. Paris, Hachette ^ Co., 1892) mit zwei Romanen Kingsleys eingehend beschäftigt und eine Fülle seiner Bemerkungen daran geknüpft. Das beste, was über ihn bis jetzt erschienen ist, ist ein holländisches Werk: (it^rlsL XinAsle^, Zollet» van I<!U'ni(t,or vn voillcvoMon iric-t LloemIe^inA uit Äjne (ülö8o1irlltöii äoor v. N. av Vries (Amsterdam, I. H. de Bussy, 1888). Leider wird in diesem Buche das Urteil des Verfassers durch eine übermäßige Verwendung von Belegstellen und Zitaten aus Kingleys Werken verwirrt und so das Charakter¬ bild des Dichters in den Hauptzügen verwischt. Selten ist ein Mensch in seiner öffentlichen Thätigkeit so vielen Ver- kennnngen, Gehässigkeiten und Augriffe» ausgesetzt gewesen wie Charles Kingsley. Die litterarische Kritik seiner Zeit tadelte seine Schriften als tendenziös, von einseitiger Schärfe, unfertig und vo» unkünstlerischer Form. Die Vertreter der gelehrten Zunft klagten über den Mangel an Objektivität »ut wissenschaft¬ licher Genauigkeit in feinen geschichtlichen Studien. Die Arbeiter und Char-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/320>, abgerufen am 19.05.2024.