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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Charles Ringsley als Lichter und Sozialreforiner

laß sie den ihren gehen! Erfinde dir einen kräftigen, einfachen, breitspurigen
Sachsenstil!"

Als seine Werkstatt in einen stop-stop mit Schwitzershstem verwandelt wird,
verläßt Akkon sein Handwerk. Er tritt zu den Chartisten über, bleibt bei Sandy
und schreibt Volkslieder. Sands giebt ihm den Rat, nach Cambridge zu wandern,
seine Gedichte dein Vetter Georg vorzulegen; vielleicht werde der für die Ver¬
öffentlichung sorgen. So beginnt denn Akkon seine Wanderung, die ihn zum
erstenmale aus deu Mauern und Straßen Londons in eine ihm ganz neue Welt
führt. Er kommt in Cambridge an und gerät in ein großes Wettrudern;
aber auch sein Verlornes Götterbild, Lilian Winnstah, findet er wieder. Er
besucht den Dechanten Winnstay, und dieser ist bereit, für Altorf Gedichte
einen Verleger zu schaffen, wenn Akkon einige besonders feindselige Lieder aus
dem Buche entferne. Nach langem Zögern geht er darauf ein, und die Gedichte
werden gedruckt. Bei seiner Rückkehr nach London erführe er den Tod seiner
Mutter. Damit schließt der erste Band.

Im zweiten Teile sehen wir Akkon in seiner Thätigkeit als Chartistenführer
und Volksredner. Er wird Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Zeitschrift,
lernt aber bald die ganze Kritiklosigkeit und Gemeinheit des Redakteurs kennen,
überwirft sich mit ihm und wird seitdem fortwährend als Verräter angeschwärzt.
Dazu kommeu andre Enttäuschungen, sodaß Akkon gar an Selbstmord denkt.
Da reißt ihn ein Aufstand auf dem Lande aus seiner Verzweiflung. Er will
hinaus zu den Landleuten und ihnen die Grundsätze der Charte predigen.
Das Kapitel, worin Kingsley dieses Unternehmen seines Helden schildert, ist
das farbigste des ganzen Romans. Die öde, verdorrte Landschaft, das vor
Hunger und Elend stumpfsinnig und tierisch gewordne Volk, die wunderlichen
Erscheinungen der Volksredner, die konfusen Reden, die sie halten, die brüllende
Masse -- alles schreckt den jungen Dichter einen Augenblick zurück. Endlich
packt ihn der ganze, lange unterdrückte Ingrimm gegen die besitzenden Blut¬
sauger, und er hält auf freiern Felde eine stürmische Rede. Die Massen ge¬
raten in wilde Erregung, sie schreien nach Brot, nach Raub, Mord und Brand.
Sie überfallen eine Farm und wüten darin wie die Bestien. Als Militär
heranrückt, flieht die feige Menge aus einander. Akkon Locke, der vergebens
versucht hat, die Unholde von ihrem wahnsinnigen Beginnen zurückzuhalten,
wird gefangen genommen. Nach einem längern Verhör wird er zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt.

Seinem vergitterten Fenster gegenüber wird auf einem freien Platze eine
Kirche erbaut, und mit bitterm Groll sieht er seinen schlauen und glücklichen
Vetter Georg in dieser neuen Kirche amtiren. Endlich erlangt er die Freiheit
wieder. Inzwischen ist die Februarrevolution ausgebrochen; aber die Londoner
Chartistenbewegung vom 10. April 1848 wird vereitelt. Allons Begeisterung
sinkt völlig, er bricht zusammen, wie er seine angebetete Lilian in den Armen


Charles Ringsley als Lichter und Sozialreforiner

laß sie den ihren gehen! Erfinde dir einen kräftigen, einfachen, breitspurigen
Sachsenstil!"

Als seine Werkstatt in einen stop-stop mit Schwitzershstem verwandelt wird,
verläßt Akkon sein Handwerk. Er tritt zu den Chartisten über, bleibt bei Sandy
und schreibt Volkslieder. Sands giebt ihm den Rat, nach Cambridge zu wandern,
seine Gedichte dein Vetter Georg vorzulegen; vielleicht werde der für die Ver¬
öffentlichung sorgen. So beginnt denn Akkon seine Wanderung, die ihn zum
erstenmale aus deu Mauern und Straßen Londons in eine ihm ganz neue Welt
führt. Er kommt in Cambridge an und gerät in ein großes Wettrudern;
aber auch sein Verlornes Götterbild, Lilian Winnstah, findet er wieder. Er
besucht den Dechanten Winnstay, und dieser ist bereit, für Altorf Gedichte
einen Verleger zu schaffen, wenn Akkon einige besonders feindselige Lieder aus
dem Buche entferne. Nach langem Zögern geht er darauf ein, und die Gedichte
werden gedruckt. Bei seiner Rückkehr nach London erführe er den Tod seiner
Mutter. Damit schließt der erste Band.

Im zweiten Teile sehen wir Akkon in seiner Thätigkeit als Chartistenführer
und Volksredner. Er wird Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Zeitschrift,
lernt aber bald die ganze Kritiklosigkeit und Gemeinheit des Redakteurs kennen,
überwirft sich mit ihm und wird seitdem fortwährend als Verräter angeschwärzt.
Dazu kommeu andre Enttäuschungen, sodaß Akkon gar an Selbstmord denkt.
Da reißt ihn ein Aufstand auf dem Lande aus seiner Verzweiflung. Er will
hinaus zu den Landleuten und ihnen die Grundsätze der Charte predigen.
Das Kapitel, worin Kingsley dieses Unternehmen seines Helden schildert, ist
das farbigste des ganzen Romans. Die öde, verdorrte Landschaft, das vor
Hunger und Elend stumpfsinnig und tierisch gewordne Volk, die wunderlichen
Erscheinungen der Volksredner, die konfusen Reden, die sie halten, die brüllende
Masse — alles schreckt den jungen Dichter einen Augenblick zurück. Endlich
packt ihn der ganze, lange unterdrückte Ingrimm gegen die besitzenden Blut¬
sauger, und er hält auf freiern Felde eine stürmische Rede. Die Massen ge¬
raten in wilde Erregung, sie schreien nach Brot, nach Raub, Mord und Brand.
Sie überfallen eine Farm und wüten darin wie die Bestien. Als Militär
heranrückt, flieht die feige Menge aus einander. Akkon Locke, der vergebens
versucht hat, die Unholde von ihrem wahnsinnigen Beginnen zurückzuhalten,
wird gefangen genommen. Nach einem längern Verhör wird er zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt.

Seinem vergitterten Fenster gegenüber wird auf einem freien Platze eine
Kirche erbaut, und mit bitterm Groll sieht er seinen schlauen und glücklichen
Vetter Georg in dieser neuen Kirche amtiren. Endlich erlangt er die Freiheit
wieder. Inzwischen ist die Februarrevolution ausgebrochen; aber die Londoner
Chartistenbewegung vom 10. April 1848 wird vereitelt. Allons Begeisterung
sinkt völlig, er bricht zusammen, wie er seine angebetete Lilian in den Armen


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[0374] Charles Ringsley als Lichter und Sozialreforiner laß sie den ihren gehen! Erfinde dir einen kräftigen, einfachen, breitspurigen Sachsenstil!" Als seine Werkstatt in einen stop-stop mit Schwitzershstem verwandelt wird, verläßt Akkon sein Handwerk. Er tritt zu den Chartisten über, bleibt bei Sandy und schreibt Volkslieder. Sands giebt ihm den Rat, nach Cambridge zu wandern, seine Gedichte dein Vetter Georg vorzulegen; vielleicht werde der für die Ver¬ öffentlichung sorgen. So beginnt denn Akkon seine Wanderung, die ihn zum erstenmale aus deu Mauern und Straßen Londons in eine ihm ganz neue Welt führt. Er kommt in Cambridge an und gerät in ein großes Wettrudern; aber auch sein Verlornes Götterbild, Lilian Winnstah, findet er wieder. Er besucht den Dechanten Winnstay, und dieser ist bereit, für Altorf Gedichte einen Verleger zu schaffen, wenn Akkon einige besonders feindselige Lieder aus dem Buche entferne. Nach langem Zögern geht er darauf ein, und die Gedichte werden gedruckt. Bei seiner Rückkehr nach London erführe er den Tod seiner Mutter. Damit schließt der erste Band. Im zweiten Teile sehen wir Akkon in seiner Thätigkeit als Chartistenführer und Volksredner. Er wird Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Zeitschrift, lernt aber bald die ganze Kritiklosigkeit und Gemeinheit des Redakteurs kennen, überwirft sich mit ihm und wird seitdem fortwährend als Verräter angeschwärzt. Dazu kommeu andre Enttäuschungen, sodaß Akkon gar an Selbstmord denkt. Da reißt ihn ein Aufstand auf dem Lande aus seiner Verzweiflung. Er will hinaus zu den Landleuten und ihnen die Grundsätze der Charte predigen. Das Kapitel, worin Kingsley dieses Unternehmen seines Helden schildert, ist das farbigste des ganzen Romans. Die öde, verdorrte Landschaft, das vor Hunger und Elend stumpfsinnig und tierisch gewordne Volk, die wunderlichen Erscheinungen der Volksredner, die konfusen Reden, die sie halten, die brüllende Masse — alles schreckt den jungen Dichter einen Augenblick zurück. Endlich packt ihn der ganze, lange unterdrückte Ingrimm gegen die besitzenden Blut¬ sauger, und er hält auf freiern Felde eine stürmische Rede. Die Massen ge¬ raten in wilde Erregung, sie schreien nach Brot, nach Raub, Mord und Brand. Sie überfallen eine Farm und wüten darin wie die Bestien. Als Militär heranrückt, flieht die feige Menge aus einander. Akkon Locke, der vergebens versucht hat, die Unholde von ihrem wahnsinnigen Beginnen zurückzuhalten, wird gefangen genommen. Nach einem längern Verhör wird er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seinem vergitterten Fenster gegenüber wird auf einem freien Platze eine Kirche erbaut, und mit bitterm Groll sieht er seinen schlauen und glücklichen Vetter Georg in dieser neuen Kirche amtiren. Endlich erlangt er die Freiheit wieder. Inzwischen ist die Februarrevolution ausgebrochen; aber die Londoner Chartistenbewegung vom 10. April 1848 wird vereitelt. Allons Begeisterung sinkt völlig, er bricht zusammen, wie er seine angebetete Lilian in den Armen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/374>, abgerufen am 28.05.2024.