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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Alassenbewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich

schließlich das Ohr der öffentlichen Meinung hatte, konnte auch das Bürger¬
tum für das Deutschtum starke Gewichte in die Wngschale werfen. Aber
plötzlich ward diese Anschauung durch den Einbruch einer alles umgestaltenden
Thatsache über den Haufen geworfen. Das deutsche Reich wurde -- wenigstens
soweit die sinnfälligen Erscheinungen sprechen -- nicht unmittelbar durch die
politische Arbeit des Bürgertums, sondern durch die Monarchie, das Heer und
durch das aristokratische Oberhaupt des Beamtentums -- den masor äoiriri8
nannten ihn die neidischen Gegner -- geschaffen. Das deutsche Bürgertum
spaltete sich: ein Teil erkannte dankbar das heilsame Wirken dieser nationalen
Kräfte an und Scharte sich um die neuerstcmdnen schöpferischen Werkmeister,
die andre Hälfte hielt hartnäckig daran fest, daß nur das Parlament das Recht
gehabt hätte, den Deutschen ein großes Vaterland zu gründen. In diesen
Kämpfen zerrieb sich das Bürgertum, und die Herrscher fühlten kein Interesse,
diesen Stand, den einzigen gefährlichen Nebenbuhler in der Frage der Macht,
zu einer Einheit zusammenzutreten. Deutschland und Osterreich werden von
denselben politischen Ideen beherrscht; so pflanzt sich das Wirrsal innerhalb
der bürgerlichen Klassen anch über die schwarzgelben Grenzpfühle fort. Die
Monarchie und der Adel in Osterreich zogen aus der Befestigung oder Neu-
erweckung konservativen Geistes unter den deutschen Stämmen ihren Gewinn,
obwohl insbesondre die Thaten der österreichischen Aristokratie weit zurück-
blieben hinter dem, was der Adel des deutschen Reiches im Heere und im
Beamtentum für sein Vaterland geleistet hatte. Im deutschen Bürgertum
Österreichs übten Zünftlertum und Antisemitismus ihre zersetzende Kraft mit
voller Wirkung; in Wien besonders entstand in den Köpfen ein chaotischer Zu¬
stand, den die klerikale Partei trefflich auszunutzen verstand. Der Widerstand,
den das deutsche Bürgertum lange dem Vordringen des Slawentums ent¬
gegengesetzt hatte, wurde durch seine innere Spaltung gebrochen. Seine
Schwäche wurde von einem geschickten Minister genährt und benutzt; erbittert
über den Widerstand, den ihm die bürgerliche Verfassungspartei bei seinem
Emporkommen entgegengesetzt hatte, läßt jetzt Graf Taaffe die Deutschen all
das Herzeleid entgelten, das sie und ihre Führer ihm angethan haben. Es
gelang ihm, die Regierungsgewalt in so hohem Grade zu befestigen, daß ihn
in einem gewissen Zeitpunkte alle Nationalitäten, alle Parteien werbend um¬
standen und ihm um den Preis eines Anteils an der Macht ihren parlamen¬
tarischen Beistand anboten. So konnte der dem Deutschtum im ganzen feind¬
selige Einfluß des Adels und der Geistlichkeit die Wurzeln der Machtstellung
der Deutschen untergraben. Gleichzeitig quollen aus der Tiefe des sozialen
Körpers Blutströme empor, die dem deutschen Bürgertum mit ähnlichen
Gefahren drohten. Denn wohlgemerkt, das Bürgertum hatte in der Leitung
des Staates lauge Zeit seiue Klnsfeninteresfen stark vorwalten lasten, sodaß
es das Mißtrauen erweckte, es berge unter der Verteidigung der Nationalität


Alassenbewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich

schließlich das Ohr der öffentlichen Meinung hatte, konnte auch das Bürger¬
tum für das Deutschtum starke Gewichte in die Wngschale werfen. Aber
plötzlich ward diese Anschauung durch den Einbruch einer alles umgestaltenden
Thatsache über den Haufen geworfen. Das deutsche Reich wurde — wenigstens
soweit die sinnfälligen Erscheinungen sprechen — nicht unmittelbar durch die
politische Arbeit des Bürgertums, sondern durch die Monarchie, das Heer und
durch das aristokratische Oberhaupt des Beamtentums — den masor äoiriri8
nannten ihn die neidischen Gegner — geschaffen. Das deutsche Bürgertum
spaltete sich: ein Teil erkannte dankbar das heilsame Wirken dieser nationalen
Kräfte an und Scharte sich um die neuerstcmdnen schöpferischen Werkmeister,
die andre Hälfte hielt hartnäckig daran fest, daß nur das Parlament das Recht
gehabt hätte, den Deutschen ein großes Vaterland zu gründen. In diesen
Kämpfen zerrieb sich das Bürgertum, und die Herrscher fühlten kein Interesse,
diesen Stand, den einzigen gefährlichen Nebenbuhler in der Frage der Macht,
zu einer Einheit zusammenzutreten. Deutschland und Osterreich werden von
denselben politischen Ideen beherrscht; so pflanzt sich das Wirrsal innerhalb
der bürgerlichen Klassen anch über die schwarzgelben Grenzpfühle fort. Die
Monarchie und der Adel in Osterreich zogen aus der Befestigung oder Neu-
erweckung konservativen Geistes unter den deutschen Stämmen ihren Gewinn,
obwohl insbesondre die Thaten der österreichischen Aristokratie weit zurück-
blieben hinter dem, was der Adel des deutschen Reiches im Heere und im
Beamtentum für sein Vaterland geleistet hatte. Im deutschen Bürgertum
Österreichs übten Zünftlertum und Antisemitismus ihre zersetzende Kraft mit
voller Wirkung; in Wien besonders entstand in den Köpfen ein chaotischer Zu¬
stand, den die klerikale Partei trefflich auszunutzen verstand. Der Widerstand,
den das deutsche Bürgertum lange dem Vordringen des Slawentums ent¬
gegengesetzt hatte, wurde durch seine innere Spaltung gebrochen. Seine
Schwäche wurde von einem geschickten Minister genährt und benutzt; erbittert
über den Widerstand, den ihm die bürgerliche Verfassungspartei bei seinem
Emporkommen entgegengesetzt hatte, läßt jetzt Graf Taaffe die Deutschen all
das Herzeleid entgelten, das sie und ihre Führer ihm angethan haben. Es
gelang ihm, die Regierungsgewalt in so hohem Grade zu befestigen, daß ihn
in einem gewissen Zeitpunkte alle Nationalitäten, alle Parteien werbend um¬
standen und ihm um den Preis eines Anteils an der Macht ihren parlamen¬
tarischen Beistand anboten. So konnte der dem Deutschtum im ganzen feind¬
selige Einfluß des Adels und der Geistlichkeit die Wurzeln der Machtstellung
der Deutschen untergraben. Gleichzeitig quollen aus der Tiefe des sozialen
Körpers Blutströme empor, die dem deutschen Bürgertum mit ähnlichen
Gefahren drohten. Denn wohlgemerkt, das Bürgertum hatte in der Leitung
des Staates lauge Zeit seiue Klnsfeninteresfen stark vorwalten lasten, sodaß
es das Mißtrauen erweckte, es berge unter der Verteidigung der Nationalität


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[0442] Alassenbewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich schließlich das Ohr der öffentlichen Meinung hatte, konnte auch das Bürger¬ tum für das Deutschtum starke Gewichte in die Wngschale werfen. Aber plötzlich ward diese Anschauung durch den Einbruch einer alles umgestaltenden Thatsache über den Haufen geworfen. Das deutsche Reich wurde — wenigstens soweit die sinnfälligen Erscheinungen sprechen — nicht unmittelbar durch die politische Arbeit des Bürgertums, sondern durch die Monarchie, das Heer und durch das aristokratische Oberhaupt des Beamtentums — den masor äoiriri8 nannten ihn die neidischen Gegner — geschaffen. Das deutsche Bürgertum spaltete sich: ein Teil erkannte dankbar das heilsame Wirken dieser nationalen Kräfte an und Scharte sich um die neuerstcmdnen schöpferischen Werkmeister, die andre Hälfte hielt hartnäckig daran fest, daß nur das Parlament das Recht gehabt hätte, den Deutschen ein großes Vaterland zu gründen. In diesen Kämpfen zerrieb sich das Bürgertum, und die Herrscher fühlten kein Interesse, diesen Stand, den einzigen gefährlichen Nebenbuhler in der Frage der Macht, zu einer Einheit zusammenzutreten. Deutschland und Osterreich werden von denselben politischen Ideen beherrscht; so pflanzt sich das Wirrsal innerhalb der bürgerlichen Klassen anch über die schwarzgelben Grenzpfühle fort. Die Monarchie und der Adel in Osterreich zogen aus der Befestigung oder Neu- erweckung konservativen Geistes unter den deutschen Stämmen ihren Gewinn, obwohl insbesondre die Thaten der österreichischen Aristokratie weit zurück- blieben hinter dem, was der Adel des deutschen Reiches im Heere und im Beamtentum für sein Vaterland geleistet hatte. Im deutschen Bürgertum Österreichs übten Zünftlertum und Antisemitismus ihre zersetzende Kraft mit voller Wirkung; in Wien besonders entstand in den Köpfen ein chaotischer Zu¬ stand, den die klerikale Partei trefflich auszunutzen verstand. Der Widerstand, den das deutsche Bürgertum lange dem Vordringen des Slawentums ent¬ gegengesetzt hatte, wurde durch seine innere Spaltung gebrochen. Seine Schwäche wurde von einem geschickten Minister genährt und benutzt; erbittert über den Widerstand, den ihm die bürgerliche Verfassungspartei bei seinem Emporkommen entgegengesetzt hatte, läßt jetzt Graf Taaffe die Deutschen all das Herzeleid entgelten, das sie und ihre Führer ihm angethan haben. Es gelang ihm, die Regierungsgewalt in so hohem Grade zu befestigen, daß ihn in einem gewissen Zeitpunkte alle Nationalitäten, alle Parteien werbend um¬ standen und ihm um den Preis eines Anteils an der Macht ihren parlamen¬ tarischen Beistand anboten. So konnte der dem Deutschtum im ganzen feind¬ selige Einfluß des Adels und der Geistlichkeit die Wurzeln der Machtstellung der Deutschen untergraben. Gleichzeitig quollen aus der Tiefe des sozialen Körpers Blutströme empor, die dem deutschen Bürgertum mit ähnlichen Gefahren drohten. Denn wohlgemerkt, das Bürgertum hatte in der Leitung des Staates lauge Zeit seiue Klnsfeninteresfen stark vorwalten lasten, sodaß es das Mißtrauen erweckte, es berge unter der Verteidigung der Nationalität

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/442>, abgerufen am 28.05.2024.