Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.Litteratur und Zusammenhang gleichsam im Schatten bleibt, ans dem nur einzelne Gestalten Nach der ästhetischen Seite hin läßt das Buch freilich mehr zu wünschen übrig. Frankreich, Rußland und der Dreibund. Geschichtliche Rückblicke für die Genenwcirt von H. Heinrich Geffcken. Berlin, Richard Wilhelmi, 1893 Der Verfasser will nachweisen, daß die beiden Mächte im Westen und Osten Litteratur und Zusammenhang gleichsam im Schatten bleibt, ans dem nur einzelne Gestalten Nach der ästhetischen Seite hin läßt das Buch freilich mehr zu wünschen übrig. Frankreich, Rußland und der Dreibund. Geschichtliche Rückblicke für die Genenwcirt von H. Heinrich Geffcken. Berlin, Richard Wilhelmi, 1893 Der Verfasser will nachweisen, daß die beiden Mächte im Westen und Osten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216122"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1375" prev="#ID_1374"> und Zusammenhang gleichsam im Schatten bleibt, ans dem nur einzelne Gestalten<lb/> und Situationen deutlicher hervortreten, liegt der Heines der Zuversicht, daß die<lb/> Gotteskindschaft ans allen Fährlichkeiten und Prüfungen des Erdenlebens siegreich<lb/> hinausführe. Diese Zuversicht verleiht den Erfindungen und Schilderungen des<lb/> Verfassers eine gewisse Kraft und den bunten, wechselvollen Geschichten eine Art<lb/> Einheit.</p><lb/> <p xml:id="ID_1376"> Nach der ästhetischen Seite hin läßt das Buch freilich mehr zu wünschen übrig.<lb/> Die Gestaltungskraft und Schildernngsgabe Sperls geht zunächst über ein frisches<lb/> Skizzirtalent nicht hinaus. In voller Lebendigkeit und Deutlichkeit treten uns nnr<lb/> einige idyllische Schilderungen, einige feine Nnturbilder entgegen, nnr ein- und das<lb/> andremcil vergönnt uns der Verfasser einen tiefern und überzeugenden Blick in<lb/> das Seelenleben seiner Gestalten, so in der Erzählung „Karriere," bei der er¬<lb/> greifenden Schilderung der Nacht, in der der Karrieremacher seinen Knaben in den<lb/> Tod getrieben zu habe« glaubt, so in der Schlußgeschichte des Buches, bei der<lb/> Darstellung der gewaltsamen Bekehrung des alten Richters und seiner Seelenkämpfe.<lb/> Die meisten Partien enthalten nichts, was mit dem Leben und der Wirklichkeit im<lb/> Widerspruch stünde, aber wir müssen die Dinge auf Treu und Glauben hinnehmen,<lb/> in den historischen Erzählungen fehlt der lebendige Hauch der Zeit, fehlt zu den<lb/> Umrissen die Ausführung, die unentbehrliche Farbe der Periode, an die wir denken<lb/> sollen. In der Geschichte „Der Eisenhammer" wäre es z. B. geradezu geboten<lb/> gewesen, die verhängnisvolle Gnade und Ungnade eines absoluten Kleinflaatherrschers<lb/> des achtzehnten Jahrhunderts mit voller Treue und den charakteristischen Einzel¬<lb/> heiten der bösen alten Zeit darzustellen. In der Geschichte des Obersten und seiner<lb/> Sohne („Das Schloß in der Mark") liegt der Keim zu einer ergreifenden Erzäh¬<lb/> lung, aber doch eben uur der Keim. Der Verfasser glaube uicht, daß die Knapp¬<lb/> heit und Kürze der Darstellung diese Art der Belebung ausschließe. Es giebt<lb/> Novellen von H. W. nicht, von W. Raabe und andern, in denen die schwere<lb/> Aufgabe, in der Erfindung und Ausführung einer kurzen Geschichte aus der Ver¬<lb/> gangenheit doch auch die Farbe und den Duft der Zeit wiederzugeben, mit großer<lb/> Meisterschaft gelöst ist. Das läßt sich der „Fahrt nach der alten Urkunde" nicht<lb/> nachrühmen; die Phantasie des Lesers und das, was er etwa von den Zeiten und<lb/> Stellen weiß, in denen sich die Geschicke des Geschlechts der Kerdcrn abspielen,<lb/> müssen hier vielfach ergänzend eintreten. Die Lyrik in diesen Erzählungen (Lyrik<lb/> im weitesten Sinne genommen, alles, was Empfindung, Stimmung, Gedankenleben<lb/> ist, alles bis zum Naturbild herab) überragt die epische Gestaltungskraft und Er-<lb/> zählungskunst bei weitem. Ob der Verfasser in dem gleichen Geiste, aber mit<lb/> hoher» Ansprüchen um den künstlerischen Wert seiner Gebilde in spätern und großer»<lb/> Schöpfungen ein ausgiebiges Talent bewähren wird, müssen wir zunächst dahin¬<lb/> gestellt sein lassen. Unmöglich wäre es ja uicht, und erfreulich würde es unter<lb/> allen Umständen sein. Einstweilen wird es keinen ernsten Leser reuen, dieses Buch<lb/> zur Hand genommen zu haben.</p><lb/> <div n="2"> <head> Frankreich, Rußland und der Dreibund. Geschichtliche Rückblicke für die Genenwcirt<lb/> von H. Heinrich Geffcken. Berlin, Richard Wilhelmi, 1893</head><lb/> <p xml:id="ID_1377" next="#ID_1378"> Der Verfasser will nachweisen, daß die beiden Mächte im Westen und Osten<lb/> unsers Vaterlandes niemals zu einem dauernden Bündnis hätten gelangen können,<lb/> und den Schluß daraus gezogen wissen, daß sie auch fortan nicht dazu imstande<lb/> sein würden. Er greift zu diesem Zweck bis ans Peter den Großen zurück, wird<lb/> ausführlich, nachdem er in die Zeit Alexanders I., und redselig, nachdem er in</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0398]
Litteratur
und Zusammenhang gleichsam im Schatten bleibt, ans dem nur einzelne Gestalten
und Situationen deutlicher hervortreten, liegt der Heines der Zuversicht, daß die
Gotteskindschaft ans allen Fährlichkeiten und Prüfungen des Erdenlebens siegreich
hinausführe. Diese Zuversicht verleiht den Erfindungen und Schilderungen des
Verfassers eine gewisse Kraft und den bunten, wechselvollen Geschichten eine Art
Einheit.
Nach der ästhetischen Seite hin läßt das Buch freilich mehr zu wünschen übrig.
Die Gestaltungskraft und Schildernngsgabe Sperls geht zunächst über ein frisches
Skizzirtalent nicht hinaus. In voller Lebendigkeit und Deutlichkeit treten uns nnr
einige idyllische Schilderungen, einige feine Nnturbilder entgegen, nnr ein- und das
andremcil vergönnt uns der Verfasser einen tiefern und überzeugenden Blick in
das Seelenleben seiner Gestalten, so in der Erzählung „Karriere," bei der er¬
greifenden Schilderung der Nacht, in der der Karrieremacher seinen Knaben in den
Tod getrieben zu habe« glaubt, so in der Schlußgeschichte des Buches, bei der
Darstellung der gewaltsamen Bekehrung des alten Richters und seiner Seelenkämpfe.
Die meisten Partien enthalten nichts, was mit dem Leben und der Wirklichkeit im
Widerspruch stünde, aber wir müssen die Dinge auf Treu und Glauben hinnehmen,
in den historischen Erzählungen fehlt der lebendige Hauch der Zeit, fehlt zu den
Umrissen die Ausführung, die unentbehrliche Farbe der Periode, an die wir denken
sollen. In der Geschichte „Der Eisenhammer" wäre es z. B. geradezu geboten
gewesen, die verhängnisvolle Gnade und Ungnade eines absoluten Kleinflaatherrschers
des achtzehnten Jahrhunderts mit voller Treue und den charakteristischen Einzel¬
heiten der bösen alten Zeit darzustellen. In der Geschichte des Obersten und seiner
Sohne („Das Schloß in der Mark") liegt der Keim zu einer ergreifenden Erzäh¬
lung, aber doch eben uur der Keim. Der Verfasser glaube uicht, daß die Knapp¬
heit und Kürze der Darstellung diese Art der Belebung ausschließe. Es giebt
Novellen von H. W. nicht, von W. Raabe und andern, in denen die schwere
Aufgabe, in der Erfindung und Ausführung einer kurzen Geschichte aus der Ver¬
gangenheit doch auch die Farbe und den Duft der Zeit wiederzugeben, mit großer
Meisterschaft gelöst ist. Das läßt sich der „Fahrt nach der alten Urkunde" nicht
nachrühmen; die Phantasie des Lesers und das, was er etwa von den Zeiten und
Stellen weiß, in denen sich die Geschicke des Geschlechts der Kerdcrn abspielen,
müssen hier vielfach ergänzend eintreten. Die Lyrik in diesen Erzählungen (Lyrik
im weitesten Sinne genommen, alles, was Empfindung, Stimmung, Gedankenleben
ist, alles bis zum Naturbild herab) überragt die epische Gestaltungskraft und Er-
zählungskunst bei weitem. Ob der Verfasser in dem gleichen Geiste, aber mit
hoher» Ansprüchen um den künstlerischen Wert seiner Gebilde in spätern und großer»
Schöpfungen ein ausgiebiges Talent bewähren wird, müssen wir zunächst dahin¬
gestellt sein lassen. Unmöglich wäre es ja uicht, und erfreulich würde es unter
allen Umständen sein. Einstweilen wird es keinen ernsten Leser reuen, dieses Buch
zur Hand genommen zu haben.
Frankreich, Rußland und der Dreibund. Geschichtliche Rückblicke für die Genenwcirt
von H. Heinrich Geffcken. Berlin, Richard Wilhelmi, 1893
Der Verfasser will nachweisen, daß die beiden Mächte im Westen und Osten
unsers Vaterlandes niemals zu einem dauernden Bündnis hätten gelangen können,
und den Schluß daraus gezogen wissen, daß sie auch fortan nicht dazu imstande
sein würden. Er greift zu diesem Zweck bis ans Peter den Großen zurück, wird
ausführlich, nachdem er in die Zeit Alexanders I., und redselig, nachdem er in
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